"Am Ende des Alltags"
Der Choreograph und Performer Raimund Hoghe
Von Katja Schneider
tanzdrama Nr. 52, 2000

Einmal war er "Wunschträumer der Woche". Da durfte er zum Grand Prix d'Eurovision de la Chanson nach Wien fahren und zusehen, wie Sandie Shaw barfuß auftrat und mit Puppet on a String gewann. Daran erinnert sich Raimund Hoghe im Mai 1999 in der Zeit, für die er jahrelang Reportagen und Porträts schrieb. Wunschträumend wollte er als Kind zum Ballett, im Schultheater gab er das Rumpelstilzchen. "Da wird ihr Sohn fünf", schreibt er in seinem Buch Preis der Liebe über Leben und Liebe seiner Mutter und seine Kindheit: "Er sei zu klein für sein Alter, sagen die Leute. Zu zart, zu schwach. Und da ist etwas, was man noch kaum sieht: eine leichte Krümmung des Rückgrats, eine kaum sichtbare Kurve, die ihr Angst macht. Sie wird stärker und stärker und wächst, ohne daß sie sie aufhalten könnte. Da könne man wenig tun, sagen die Ärzte, verschreiben Massagen und Gymnastik und einmal im Jahr eine Kur an der See. Das sei gut für die Bronchien des Jungen und lasse ihn freier atmen." Als er erwachsen geworden war, ist er immer noch klein, nur die Krümmung ist größer geworden; er erfüllt sich seinen Wunschtraum: Er kommt zum Tanz. Über Etappen. Erst schreibend, dann als Dramaturg bei Pina Bausch, anschließend als Choreograph für fremde Körper. Forbidden Fruit entsteht für Mark Sieczkarek, Geraldo's Solo für Geraldo Si Loureiro, Verdi Prati für Rodolpho Leoni. Dann inszeniert er seinen eigenen Körper.
"Als ich angefangen habe, Solosachen für mich zu machen, habe ich das oft abends in Front des Fensters gemacht. Dann hatte ich den Blick nach außen und die Reflektion im Fenster. Vieles kommt auch aus der Erinnerung." 1994 entstand als erstes das Solo Meinwärts, in dem er sich mit der Biographie des ebenfalls nur knapp über ein Meter fünfzig großen jüdischen Kammersängers Joseph Schmidt beschäftigte, der 1942 in einem Internierungslager in der Schweiz zu Tode gebracht wurde. Neun Jahre vorher, einen Tag vor der "Bücherverbrennung" durch die Nationalsozialisten, hatte Schmidts Film Ein Lied geht um die Welt Premiere. Auf der Bühne stellt Hoghe ein Mikrophon auf und legt sich dahinter ins Dunkle. Das Lied geht um die Welt, sein Sänger ist längst von ihr gegangen. Hoghe inszeniert häufig diese "Leerstellen", in denen sich die konservierte Lebendigkeit der Musik an der Unbeweglichkeit der Körper bricht und einen Verlust deutlich macht. So beginnt schon das Stück, wenn die Musik des Balletts L'Après-midi d'un faune erklingt, zu der niemand tanzt. Man könne dabei, sagt Hoghe, an die Tänzer denken, die gestorben sind.
Wechselbezüge von Gegenwart und Vergangenheit prägen seine Werke. In Meinwärts thematisiert er die Zeit des Nationalsozialismus, in dem 1997 entstandenen Solo Chambre séparée seine Kindheit im Deutschland der fünfziger Jahre, die der 1949 geborene Künstler in Wuppertal verbracht hat. Sein nächstes Stück soll diese individuellen Erinnerungen an kollektive Biographien in die sechziger Jahre fortsetzen. Zugleich weisen seine Werke über die konkreten historischen Bezüge hinaus, indem in ihnen die Themen Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus oder Aids im wörtlichen Sinne ihren Raum bekommen. Hoghe bezieht politisch Stellung: In seinem jüngsten Solo Lettere amorose (1999) liest er Briefe von Türken vor, die in Deutschland leben und an ihre in der Türkei gebliebenen Verwandten schreiben, zitiert zwei afrikanische Jugendliche, die westliche Politiker brieflich um Hilfe bitten und nicht viel später auf dem Weg nach Europa im Fahrgestell eines Flugzeugs umkommen. Doch sind solch plastisch-plakative, wenngleich lakonisch vorgetragene Szenen selten, in der Regel präsentiert Hoghe dem Publikum seine Forderungen unausgesprochen: Erinnert euch mit mir, macht mit mir jetzt gemeinsame Sache, aber macht euch eure eigenen Gedanken - und gesteht mir zu, daß ich mich so zeige, wie ich es tue.
Was Raimund Hoghe auf der Bühne tut und wie er es macht, das ist untrennbar mit seinem Körper verbunden, einem Körper, der, klein und mit Buckel, nicht der Norm entspricht. Wo andere Künstler am Körper zeigen, wie dieser vom Durchschlag psychischer und gesellschaftlich-sozialer Verhältnisse verformt wird, da spannt Hoghe mit seinen Aktionen den verformten Körper in eine strenge ästhetische Form. Oft genügen ihm ein, zwei Gesten oder kleine Bewegungen, die er ruhig und klar wiederholt, bis ein Spannungsbogen zu Ende ist. Meist ist es die Musik, die seine Stücke strukturiert. Seine Handlungen beginnen mit dem Musikeinsatz, manchmal gehen sie darüber hinaus, in der Regel aber füllt er mit seinen Bewegungen ein Musikstück. Oft konzentriert er sich auf eine Aktion, auf wenige Bewegungen und Gesten, wie es Sänger tun, die ihren Vortrag akzentuieren, und wiederholt sie im Verlauf der Musik: In Lettere amorose tunkt er die einzelnen Blumen eines Straußes in eine Schale mit Wasser, balanciert auf japanischen Schuhen, das Gesicht von einem Schleier verhüllt, in Meinwärts schwenkt er eine Girlande bunter Lämpchen hin und her, die leise klacken, in Dialogue with Charlotte (1998) schreibt er in Kurzschrift auf den Boden und verwischt diese Spuren wieder. Dazu singen Peggy Lee, Jacques Brel, Judy Garland, eine Opernsängerin - Stimmen, die er gerne hört, die aber nicht seine Lieblingsmusik sind: "Viele denken, der öffnet jetzt seinen Plattenschrank, aber ich reihe keine Lieblingsplatten aneinander. Ich beschäftige mich mit den Biographien der Sänger, mit den Assoziationen und Erinnerungen, die ich bei bestimmten Musiken habe, die ich schon lange kenne." Zusammengefügt ergibt die Auswahl eine Komposition.
Die Musik schreibt das Zeitmaß vor. Sie bemißt die zeitliche Spanne der Aktion - und die Lebensdauer eines ephemeren Raumes. Denn indem Hoghe auf der Bühne mit einer Fülle von kleinen Objekten umgeht, mit Schachteln, Bildern, einem japanischen Steingarten en miniature, mit Tüchern, mit Kugeln, Kerzen und einer CD, die Lichtflecken an die dunkle Wand zaubert, läßt er auf der leeren Bühne temporäre Räume entstehen, die er ein Lied lang bewohnt und dann wieder neutralisiert. Sehr selbstverständlich und ruhig baut er sie auf, hält sich in ihnen auf und räumt sie wieder ab. So stehen auch bei ihm zu Hause Schalen, Japanisches, kleine Artefakte statt Möbel auf dem Boden vor den Wänden. "Ich lebe nicht anders, nicht in einem anderen Raum als auf der Bühne. Nicht aus einem Ordnungswahn heraus, der mir oft vorgeworfen wird, sondern weil ich es spannend finde, wie man mit einfachen Mitteln einen Raum definieren kann. Es werden gleichzeitig Räume geschaffen und wieder zerstört, es ist alles im Wechsel und nicht so, daß ich ein Ordnungsfanatiker bin. Sagen wir mal, ich brauche eine bestimmte Klarheit auf der Bühne, die ich auch in meinem gewöhnlichen Leben brauche. Aber eigentlich ist es das Gegenteil von Festhalten und Ordnungmachen, man schafft sich einen Raum und löst sich wieder davon."
Seit Jahren arbeitet er mit dem bildenden Künstler Luca Giacomo Schulte zusammen.
Raimund Hoghe hat sich mit japanischen Tanz- und Theaterformen beschäftigt, hat von ihnen gelernt. Wie von Pina Bausch, der er zehn wichtige Jahre als Dramaturg zur Seite stand. Von ihr hat er die Beharrlichkeit gelernt, gegen einen Widerstand das zu machen, was einem wesentlich erscheint. Diese Erfahrung will er weitergeben. Er fühlt sich jungen Künstlern verbunden, die den Körper einer neuen Untersuchung unterziehen, Choreographen wie Meg Stuart, Emio Greco, Benoît Lachambre, Sarah Chase. Jérôme Bel steht in Hoghes Lettere amorose mit auf der Bühne, wenn beide - wie schon einige Male - an einem Ort in einer gemeinsamen Veranstaltungsreihe auftreten. "Jérômes Arbeit macht mir Mut, und Jérôme sagt, meine Arbeit mache ihm Mut." Mut, sich nicht den häufig von Veranstaltern gewünschten Formaten anzupassen, sondern seine eigenen Zeitvorstellungen von einem Stück durchzusetzen; Mut, durchzuhalten und auf die eigene Entwicklung zu vertrauen, auch wenn nicht sofort die Menschenmassen strömen; Mut, nicht in den "Markt zu gehen", der schnellen Erfolg will und nach zwei Jahren die nächste Neuentdeckung feiert. "Ich weiß noch, als ich Jérôme Bel das erste Mal getroffen habe. Das war vor vier, fünf Jahren in Rotterdam. Wir spielten parallel. Er hatte sieben Zuschauer, ich hatte zwanzig. Dann hat er gesagt, wenn heute abend wieder so wenige kommen, dann gehen wir alle zum Raimund rüber. Es kamen aber elf Zuschauer." Trotzdem ließ man ihn von seiten der Veranstalter durchhalten. Wie damals auch Pina Bausch. "Da habe ich auch Aufführungen vor dreißig Leuten gesehen, von denen gingen dann auch noch zehn. Das lief über Jahre so. Es gab böse Anfeindungen, die Kritik war auch nicht durchgehend begeistert von ihr, der Kulturdezernent schrieb, was man mit so einer Frau machen solle, die auch das Orchester nicht angemessen beschäftige. Das ist alles vergessen heute."
Pina Bausch hat ihm gezeigt, daß Normen außer Kraft gesetzt werden können. Auch das war eine Ermutigung, selbst zu tanzen - auch wenn er es zu seiner Zeit in Wuppertal nicht getan hat. Irgendwann später saß er bei einer Probe mit auf der Bühne, und die das sahen, meinten, sein Körper wirke sehr stark. Bei Pina Bausch, sagt er in seinem 1997 für den WDR gedrehten Film Der Buckel, "habe ich sehr viel sehen lernen können. Ich habe auch immer nur geguckt." Vieles, was er dort gesehen hat, prägt seine Stücke: die Themen Liebe, Kindheit und Erinnerung, der sinnliche Umgang mit Materialien und Requisiten und vor allem, wie bei ihr der Mensch, die eigene Biographie, zum Ansatz der Kunst wurde. "Keine große Ausstattung. Formal streng. Nicht sehr große technische Mittel. Die Berührung wird nicht durch technische Mittel erzeugt, sondern durch die Person, das Gefühl oder durch die Bewegung. Warum bewegt sich ein Mensch? Das muß immer einen Grund haben."
In Hoghes Umgang mit Requisiten bleibt die traditionelle Subjekt-Objekt-Beziehung immer gewahrt. Er ist derjenige, der arrangiert, schafft und wieder zerstört. Wenn er sich dabei bückt, wächst sein Rücken empor. An seinem Körper visualisiert sich die Rede von Norm und Abweichung unmittelbar, er führt uns vor, welch gesellschaftlich-soziales Konstrukt der "Körper" ist. Dazu begibt er sich nicht wie andere auf eine Meta-Ebene, er bleibt konkret, ruft Kontexte ab, die wir kennen, an die wir uns erinnern, auch wenn wir sie nicht mehr selbst erlebt haben. Auf diese Weise legt er ein Archiv an Bedeutungsträgern an, die für eine bestimmte Zeit stehen und kollektiv erlebbar waren (wie die Girlanden der fünfziger Jahren) und zugleich stetig ins Private mäandern (wenn er die Girlanden bei einem Arbeitsaufenthalt in Amsterdam wieder entdeckt). Sie sind zugleich intim und öffentlich und in hohem Maße emotional, wie auch die Musik, die Emotionen abruft, wie sie leidenschaftlicher kaum sein könnten. Aber Hoghe selbst bleibt unbewegt. In ritualhafter Strenge führt er seine Handlungen aus. Sein Körper ist die Sollbruchstelle: "Der Kontrast ist ja oft sehr stark zwischen der Musik, der Schönheit der Musik und vielleicht auch der Bilder und der Realitätspartikel und dem Körper. Dieser Bruch ist so wichtig. Ich habe diese große Sehnsucht und den Kitsch, diese wunderschöne Musik. Und dann diesen Körper, der da nicht reinpaßt."
Hoghe bricht Idealbilder, indem er die Fallhöhen zwischen zugeschriebenen Merkmalen und tatsächlichem Repräsentanten, zwischen Sehnsüchten und Realität, deutlich macht. Die Reaktionen auf seine Performances sind sehr unterschiedlich. Das Interesse in Deutschland ist spärlicher als in unserern Nachbarländern, in denen ihm - wie in Brüssel - günstige Arbeitsbedingungen ermöglicht werden und Werkschauen gewidmet sind, in denen der politische Gehalt seiner Stücke auf größere Akzeptanz stößt als hier. Und in denen der ebenfalls politische Akt, den nicht der Norm entsprechenden Körper öffentlich mit den Zeichen von Schönheit und "Normalität" zu versehen, nicht mit Überschriften abgewehrt wird wie "Die Schöne und der Bucklige" oder "Das Schneewittchen und der Zwerg", wie nach Dialogue with Charlotte, dem zwischen überschäumend-fröhlichen und still-verhaltenen Momenten oszillierenden Duett mit der hochgewachsenen schwedischen Darstellerin Charlotte Engelkes, einige Zeitungen titelten. "Ich hätte mir ja auch eine Tänzerin suchen können, die nicht ganz so groß ist", sagt Hoghe dazu, "das ist ja nicht so schwierig. Aber ich wollte zeigen, daß diese Unterschiede da sind, da kann man auch hingucken und die kann man auch benennen, dieser Körper ist so, und jener ist so, und jeder hat seine Möglichkeiten, aber es gibt eine Möglichkeit zu kommunizieren." Wenn man sich darauf einläßt. Hoghes Gesprächsangebot steht mit und in jedem seiner Stücke.

©Katja Schneider
tanzdrama Nr. 52, 2000