"Auf das Minimum maximiert"
Ein «Schwanensee» für Fortgeschrittene: Raimund Hoghe mit «Swan Lake, 4 Acts» an den Berner Tanztagen
Was bleibt von Tschaikowskys Ballettklassiker, wenn man ihn seiner Schwäne und seiner Virtuosität beraubt? Raimund Hoghe und seine vier Darsteller liefern in der Dampfzentrale einen Beweis, der erschüttert: Es bleibt das Wesentliche
Marianne Mühlemann
Der Bund, 18.06.2007
Aufgereiht in Reih und Glied zwölf Klappstühle. Und darum herum nichts als karger Raum, Schwärze, lastende Leere.
So beginnt kein «Schwanensee»! Wo sind der Park, das Schloss, die Gäste in ihren festlichen Roben? Wo ist das
Geburtstagskind, Prinz Siegfried, dessen Volljährigkeit gefeiert werden soll? Von ferne russische Stimmen, ein
zerbrechlicher Klang, knisternder «Schwanensee» auf Schellack gebannt. Tschaikowskys Intrada vermag die leeren Minuten
nur halbbatzig zu füllen. Warten, auf was? Endlich kommt einer. Nicht der Prinz: Es ist Raimund Hoghe, der Choreograf
persönlich. Ein Kobold in Schwarz, eins fünfzig gross, mit Buckel. Darf man ihm trauen?
Als Master of Ceremony zündet er eine Kerze an, stellt sie in die Apsis des hinteren Bühnenraums, setzt sich hin
und wartet. Bis ein zweiter Mann kommt und mitwartet, und ein dritter, auch er in T-Shirt und Hose. Und dann eine Frau.
Auffallend die feinen Gesichtszüge, der geschmeidige Hals, der klassische Gang, die hohen Schuhe. Ihre ballerinenhafte
Aura würde beiden Rollen gut anstehen, jener des zurückhaltenden Schwanenmädchens Odile und jener der dunklen, eiskalt
berechnenden Odette, mit ihrer provozierenden, magnetischen Ausstrahlung. Sie setzt sich hin und tut, was die andern tun.
Nichts.
Hypnotisierendes Traumspiel
Seltsames Spiel. Im Publikum wird Unruhe spürbar. Gleich entscheidet es sich, Top oder Flop? Und vielleicht werden die
ersten den Zuschauerraum verlassen. Hoghe weiss die Ungewissheit auszuhalten und reizt sie aus. Unvermittelt initiiert
er das Ritual, ein hypnotisierendes Traumspiel, in dem Sein und Schein, Illusion und Realität sich verbinden. Entlang
Ausschnitten aus der bekannten Partitur – sie wird in Hoghes «Swan Lake» von den vier Dirigenten Pierre Monteux,
Eugène Ormandy, Wolfgang Sawallisch und Leonard Bernstein interpretiert – fällt die Hingabe leicht. Nahezu unsichtbar
wächst die Bewegung in den Raum. Acht Arme und Hände markieren vage Flügelschläge, organisch-weiche Formen, Ansätze
zu hohen Sprüngen, die nicht ausgeführt werden. Die Bilder sind einkalkuliert. Fortan genügen Zitate und Gesten, um
die Assoziationen im Kopf zum Leben zu erwecken. Das ist wichtig: Ohne Bezug zum Kontext stünde das Stück im luftleeren Raum.
Neben Hoghe agieren auf der Bühne drei klassisch ausgebildete Tänzer: die Ballerina Ornella Ballestra mit ihren
atemraubend-schönen wellenden Armgirlanden, der Algerier Nabil Yahia-Aissa, Brynjar Bandlien, ein Tänzer des
Nederlands Dans Theaters, sowie der 23-jährige Performer Lorenzo De Brabandere, mit dem Hoghe vor einem Jahr im
Rahmen des Tanzfestivals Steps Strawinskys «Sacre - Rite of the Spring» auf die Bühne gebracht hat.
Mit kindlicher Hingabe
Starke Symbolik in einfachsten Bildern reiht sich dicht an dicht. Die Eiswürfel, die Hoghe zum magischen Geviert
auslegt, zum See in Stücken, die durch die Wärme zu lichten Kreisen verschmelzen, sind von überraschender Wirkung.
Die Unschuld, mit der Hoghe sich in die Schönheit träumt, in dem er seiner verbogenen Rückenlandschaft die
Schwanenflügelpose abringt, wird zum Symbol für die verschütteten Träume, die jeder in sich trägt. Und wenn er zum
grossen Walzer mit kindlicher Hingabe im Bühnenraum weisse gefaltete Papierschwäne zum Corps de ballet auslegt und
sich dazwischenkniet als schwarzer buckliger Schwan oder seinen nackten Körper zum Schluss in den erlösenden Sandsturm
legt, den Lorenzo De Branbandere, sein perfektes Alter Ego, mit seinem Atem zärtlich entfacht, dann rührt das zu Tränen.
Verletzliche Schönheit
Im vielschichtig komponierten Konzept variieren die Motive: So beschützend wie Hoghe die Papiervögel zudeckt mit
weissen Tüchlein, so bedeckt er später die athletischen Körper der Tänzer mit Mänteln, nachdem sie am Boden liegend
ihre klassischen Ports de bras in die Luft gezeichnet haben. Nach zweieinhalb Stunden schnippt Hoghe seine Tänzer mit
einer flüchtigen Handbewegung aus dem Traum. Doch irgendwie ist es das Publikum, das dabei erwacht aus einem Traum
voller verletzlicher Schönheit.
©Marianne Mühlemann