"Die Biographie des Buckels: Raimund Hoghe"
Von Arnd Wesemann
ballet-tanz Nr. 1/1999
Serie: Dialog mit dem Körper (VI)


Zwischen 1980 und 1990 interviewte und fotografierte er die Wartefrau auf der Wuppertaler Bahnhofstoilette, verfolgte das Leben eines Aidskranken, besuchte im Altersheim die Lyrikerin Rose Ausländer, die vom Bett aus ihre letzten Gedichte las und ihrem freundlichen Gegenüber ins Heft diktierte: Raimund Hoghe saß bei ihr, zurückhaltend, klug nachfragend und höflich. Zehn Jahre lang schrieb er so und fotografierte, filmte, er war Dramaturg am Wuppertaler Tanztheater, er traf den Schauspieler Peter Radtke, einen Mann mit Glasknochen. Sie zwangen ihn zu einem kleinwüchsigen Leben im Rollstuhl. In Radtke traf Raimund Hoghe, selten genug, einen körperlich noch kleineren Mann, als er es ist. Vielleicht war es diese Begegnung, die Raimund Hoghe inspirierte, vor acht Jahren den Beruf zu wechseln.

Tänzer ist Hoghe nicht geworden, Schauspieler auch nicht, Performer klingt so traurig. Ich treffe Raimund Hoghe im Brüsseler Kaaitheater. Er trägt seine berühmten perfekt geputzten Schuhe und zitiert Peter Radtke: «Ich gehe ins Theater, um zu gucken und nicht, um wegzugucken». Radtke löste als Schauspieler in George Taboris «M» und «Glückliche Tage» einen Skandal aus - wie kann ein Kritiker einen Behinderten rezensieren?, fragten die Rezensenten. Der Kritiker kann. «Er muss!», rief Peter Radtke. Eine Behinderung muss man sich ansehen. Man kann sie nicht übersehen. Man kann ja auch nicht so tun, als wäre Raimund Hoghe nicht 1,54 groß und hätte keinen Buckel. Wobei ich nicht umhin komme, hinzuzufügen, dass er ein schöner Mann ist, dem man gerne ins Gesicht schaut, auf die schmalen Lippen, in die wachen Augen, in die Ruhe, in dieses Unbeirrbare am Tag nach seiner Premiere. Noch nicht eine Rezension war geschrieben, schon kannte er jeden Einwand gegen sein jüngstes Ritual, sein Duo «Dialogue with Charlotte.»

Raimund Hoghe gilt als Vater jener Choreographengeneration, die wir in dieser Serie vorstellen. In Norwegen erhält er ganze Werkschauen, ebenso in Frankreich, zuletzt eine umfangreiche Präsentation durch den neuen Leiter des Brüsseler Kaaitheaters, Johan Reyniers. Dabei gibt es nicht so sonderlich viele Arbeiten von ihm: Im Repertoire befinden sich Hoghes Soli «Meinwärts» von 1994 und «Chambre séparée» von 1997, dazu nun das neue Duo mit der schwedischen Schauspielerin Charlotte Engelkes. Für den in Wuppertal-Langerfeld Gebürtigen und nur in Deutschland kaum Diskutierten griff in Flandern gleich ein ganzer akademischer Kader zur Feder, als ruchbar wurde, Raimund Hoghe würde nach Belgien kommen. Beeindruckende Aufsätze von Bart Philipsen, Herman Asselberghs, Peter De Jonge und selbst Johan Reyniers füllen Seiten ausgerechnet in Literaturzeitschriften. Dabei sagt er auf der Bühne kein einziges Wort.

Statt dessen streckt sich Raimund Hoghe ganz lang, wenn er sich bäuchlings auf den Schoß von Charlotte Engelkes legt und wundersame Schwimmbewegungen macht. Er krault, atmet durch, krault weiter und kommt keinen Millimeter voran. Charlotte Engelkes aus Stockholm fuhr früher Gabelstapler, bevor sie Schauspielerin wurde. Auch sie ist eine «Quereinsteigerin». Ihre Körperlänge berührt die Zweimetermarke, ihr Lächeln ist leuchtturmhaft und reicht bis in die letzte Reihe des Kaaitheater-Studios. Die beiden stehen händchenhaltend nebeneinander, sie wiegen sich ganz langsam, zwei Dutzend Lieder ziehen vorbei. Zu jedem Lied haben sich die beiden eine eigene Bewegung ausgedacht, eine kleine Aktion. Man sieht Charlotte Engelkes auf der Bühne sitzen. Aus kleinen Kügelchen legt sie um sich her ein Sternbild, erhebt sich dann mit ihrem herrlichen Lächeln - ein Bild von Frau, das die Kügelchen wie eine Spur zurücklässt, die an Kassiopeia oder Orion erinnert.

Und gleich kommt Raimund Hoghe mit seinen blitzblank polierten Schuhen und sammelt die Sternbilder wieder ein. Er macht Ordnung. Dauernd. «Ja», gibt er gerne zu, «ich bin ein sehr ordentlicher Mensch.» Akkurat. Seine Strenge in der Anlage der Performance reduziert alle Bühnenaktion auf drei Phasen: Das Hervorzaubern eines Spielzeugs, das Betrachten desselben, das Abräumen des Spielzeugs. Mal hält Charlotte Engelkes eine Krawatte empor und Raimund Hoghe ein Kleid. Ein Lied. Dann sieht man die Differenz: Kleiner Mann, hinten stehend, perspektivisch noch verkürzt, mit dem Attribut der Frau, und Charlotte Engelkes ganz vorn, mit langem rotem Haar und erhobener Krawatte. Einen Moment lang beschmeißen sich beide mit den Kügelchen, ein kurzer Sommer der Anarchie, bevor Raimund Hoghe all die Bällchen sehr sorgfältig mit einem Stock wieder von der Bühne stößt.

Um was es ihm dabei geht? Um die seltene Bewegung. Nur selten schreibt ein Mensch in Steno. Sie ist längst Geheimschrift. Hoghe beherrscht sie, schreibt mit Kreide auf die Bühne: «Es waren zwei Königskinder...». Die stenografische Bewegung ist entschlossen und kurz. Vier winzige Ballerinen aus Pappe stellt er daraufhin auf die Bühne, Charlotte Engelkes imitiert die Posen der Papptänzerinnen, dabei ähneln ihre Posen mehr den Bewegungen von Sängern als denen von Ballerinen. «Sänger tanzen ökonomischer», sagt Hoghe, sie «tanzen immer nur eine Grundbewegung pro Lied». Postkarten liegen um Charlotte Engelkes herum, geschrieben in sechs verschiedenen Sprachen, auch hier wieder Bewegungsdifferenz, Unterschiede im Zusammenspiel von Lippe und Zunge.

Die Differenz ist sein Thema. Kein Wunder. Auch sein Körper, seine Sexualität sind anders. Seinen Film, der er mit dem Westdeutschen Rundfunk produzierte, trägt einfach den Titel «Der Buckel». In seinem Solo «Meinwärts» über den ebenfalls nur 1,54 Meter großen jüdischen Kammersänger Joseph Schmidt, der 1942 im Schweizer Internierungslager Girenbad starb, hängt er minutenlang mit nacktem Rücken an einer Trapezschaukel. In seinem Solo «Chambre séparée», einer Autobiografie im deutschen Wirtschaftswunder, breitet er mit genauso nacktem Rücken seine Arme aus wie Schwingen, als würde er minutenlang über der schwarzen Bühne schweben und der kleine Buckel im Flackern der Kerzen ein Eigenleben, eine ganz eigene Biographie erhalten.

«Der Buckel ist natürlich prima», sagt Hoghe in herrlich rheinischer Sprachfärbung, «man kann ganz andere Geschichten erzählen als andere. Ich kann mit dem Kitsch ganz anders arbeiten als ein trainierter Körper. Mein Körper hat sogar weniger Einschränkungen als andere. Ich passe in jeden gewünschten Kontext: auf ein Gay-Festival, auf ein jüdisches Tanzfestival, in einen politischen Theaterkontext, ins Behindertentheater oder auf ein Mime-Festival. Das ist schon schön.»

Aber kein bisschen harmlos. «In Deutschland regen sie sich immer auf, dass ich in meinen Soli so selbst bezogen erscheine und dabei ganz politische Themen anfasse, Aids, Neonazis, ich lese schließlich Zeitung. Aber niemand spricht vom Körper, um den es doch geht, wenn wir von Aids reden, von Neonazis, die Jagd auf den fremden Körper machen.» Seinen Einfluss insbesondere auf Boris Charmatz, Jérôme Bel und Lynda Gaudreau rührt von dieser zentralen Frage: Kann ein Körper politisch sein? In seinen «Zeitporträts» beschrieb Hoghe einen unübersehbar Aidskranken, der anderen gegenüber vorgab, er sei krebskrank. Nur, um den Skandal, den sein Körper hervorrief, zu mindern.
Vor wenigen Jahren protestierten Indianer, die Oka bei Montréal, gegen eine Landnahme, indem sie eine Autobahnbrücke besetzten: fünfzig Körper, die das gesamte kanadische System herausforderten, tausend Mann waren in Bereitschaft und brachten sogar Raketen gegen die Indianer in Stellung. Der Körper ist ein Politikum, seine Selbstmorddrohung ist es, und die Androhung der Selbstverbrennung der Kurden auf einer deutschen Autobahn sei so schnell auch nicht vergessen. Es ist immer der «andere» Körper, der Körper des Aidskranken, des Indianers, des Schwarzen, des Kleinwüchsigen, des von Brandnarben Entstellten, des Einbeinigen, des Taubstummen, den man am Tanz der sprechenden Arme erkennt, des Blinden, den man am Tanz seines Stockes bemerkt, es sind die Körper, die politische Aufmerksamkeit wecken. Hoghe begreift dies als Zentrum seiner künstlerische Auseinandersetzung.

Raimund Hoghe geht es nicht darum, das Fremde nur auszustellen, obwohl es so einfach ist: «Dafür müssen andere ganz schön springen, um den Blick so fesseln, wie mein Körper es kann.»., lacht er. Er will statt dessen den Körper von seinen Festlegungen befreien. Er will das Gegenteil von political correctness.

«PC» bezeichnet den Vorgang, den Körper des anderen zu «übersehen», sein Anderssein künstlich zu ignorieren, ihn zu nivellieren, ihn ideologisch anzupassen an einen sozialen «Normkörper», auch wenn er ihm nicht entspricht. Aus diesem «Übersehen» des anderen Körpers erwächst nur neuerliches Nichtsehen. Kunst aber ist eine Kunst hinzusehen. Kein Behindertentheater, in das das Publikum mitleidig reinströmt und mit dem längst vorbereiteten Staunen wieder verlässt, wie «toll» die doch «trotz ihrer Behinderung getanzt haben.» Hoghe «tanzt» nicht. Seine Bewegungen sind genau kalkuliert, und wenn er auf der Bühne etwas sagt, vorliest, bei Kerzenschein, geht es gegen die deutsche Abschiebepraxis von Asylbewerbern, so in «Chambre séparée».

Sein Mittel ist das Ritual. Das teilt er mit Boris Charmatz, der die alten Tanztheaterspiele zwischen Mann und Frau leid war und die Differenz der Geschlechter in eine Schwebe zu bringen versucht. Hoghes Mittel ist die Biographie, der Körper hat Geschichte und Herkunft. Das teilt er mit Jérôme Bel, dessen Spiel mit Fiktion und Biographie («Ich bin Susanne Linke»)sich auch bei Hoghe wieder findet.

Sein Einfluss auf die jüngere Choreographengeneration ist nicht nur künstlerischer Natur. Hoghe ist zwar kein Anwalt einer Bewegung, der als Ex-Dramaturg von Pina Bausch die Weiterentwicklung des Tanze nach dem Tanztheater vorantreibt. Statt dessen ist er ein Leitbild, das vermittelt, dass es keine Trennung zwischen Kunst und Leben gibt. Heute interessiert ihn, wie er und seine Kollegen den Mechanismen der allzu kurzatmigen Vermarktung entkommen können, wie sie gerade als Choreographen Künstler bleiben und sich auch frei vom Markt noch entwickeln. «Wir sind Künstler jeden Tag, nicht nur, wenn der Markt uns fragt.»

Als ich einmal einwende, dass ich «Dialogue with Charlotte» als ein wenig zu lang empfunden hätte, sagt er ohne jedes beleidigt sein: «Ich könnte auch ein erfolgreicheres Stück machen. Das habe ich zehn Jahren lang mit Pina gemacht. Ich weiß, was für Mechanismen man bedienen muss, um die Kritik zu begeistern. Aber hier geht es um das Leben. Ich zögere das Ende hinaus, wie man das Leben auch hinauszögert. Irgendwann begreift man, dass das Leben wichtiger ist als das Theater. Vielleicht ist man ja als Zuschauer enttäuscht, aber als Mensch ist man bestätigt.»

©Arnd Wesemann
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