"Konzentrate des Menschlichen"
Der Choreograf Raimund Hoghe
Esther Boldt


Schönheit also. Was für eine simpel anmutende Idee in einer zynismuserprobten Gegenwart, die große Begriffe im ungeheuren Differenzierungsbemühen in viele kleine zerlegt, um ja alles zu sagen, was es zu sagen gibt. Schönheit also, die bei dem Choreografen Raimund Hoghe politisch ist, da sie die Schönheit des Verschiedenen meint und auf die Würde zielt. Dafür, dass sie nicht zu Kitsch gerinnt, sorgt die Trockenheit der Form. Beispielsweise das zauberhaft zarte Duo von Finola Cronin und Takashi Ueno, der alten Dame im roten Kleid und dem Jungspund, in "Cantatas" (2012). Es könnte eine Liebesgeschichte sein, marschierte nicht eine wechselnde Anzahl Tänzer im Viereck um sie herum; ihre Klarheit rahmt den Kitsch und trägt ihn.
Über Raimund Hoghe wurde geschrieben, bei ihm begegne die rituelle Strenge des japanischen Theaters der amerikanischen Performancekunst und dem deutschen Expressionismus, dem zugewandten Blick auf den Menschen, sein Gefühl und seine Zeit. Im Gespräch sucht der Autor, Dramaturg und Choreograf nicht lange nach Antworten, sie liegen ihm schon auf der Zunge. Woher also kommt der Minimalismus? "Tschechow hat über das Schreiben gesagt, das Wichtigste sei die Einfachheit. Es komme nicht darauf an, gut zu schreiben, sondern das schlecht Geschriebene zu streichen. Bei den Stücken ist es für mich ähnlich: Ich versuche, diese Einfachheit zu erreichen und alles, was nicht nötig ist, zu streichen." Da können, mit einem höchst musikalischen Gespür für den rechten Zeitpunkt und feiner Präzision, kleine Gesten zum Ereignis werden: das Heben eines Fußes, die Drehung einer Hand. So gesehen in "L'Après-midi" (2008), einem Solo für den Tänzer Emmanuel Eggermont vor der Folie von Vaslav Nijinskys "L'Après-midi d’un faune". Dabei bildet die Beschäftigung mit der Musik stets einen wichtigen Ausgangspunkt der Probenarbeit, das genaue Hinhören, die sorgfältige Auswahl. Immer wieder bricht sich der Pathos der Musik am Minimalismus der Form, ein Bruch, der auf Berührung zielt, und ein Spiel mit Nähe und Distanz.
"Früher habe ich mit Worten geschrieben, heute schreibe ich mit Körpern", stellt Hoghe fest. Der gelernte Journalist schrieb Porträts unter anderem für Die Zeit; von 1980 bis 1990 war er Dramaturg bei Pina Bauschs Wuppertaler Tanztheater. 1994 zeigte er sein erstes Solo, "Meinwärts", das sich mit der Biografie des jüdischen Tenors Joseph Schmidt befasste, der von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Im Leben des Einzelnen sucht der Choreograf dabei immer Zeichen seiner Zeit, in der Biografie Zeitgeschichte. Einige Male haben das Deutschland des Dritten Reiches und das der Nachkriegszeit in seine Stücke hereingeflüstert, ebenso beschäftigen ihn weiterhin Biografien von Sängern: 2008 entwickelte er ein Stück über die Operndiva Maria Callas: "36, Avenue Georges Mandel".
2013 suchte "An Evening with Judy" die Person Judy Garland hinter Klischees in Technicolor. Für seine Theaterabende nimmt sich Raimund Hoghe Zeit, um etwas zu entwickeln, drei Stunden können es schon mal werden. Er erklärt seine Stücke zu einer gemeinsamen Reise, sie seien "ein gemeinsames Durchschreiten der Zeit". Denn es folgt stets ein Schritt auf den nächsten, mit einer Strenge, die an einen Ritus erinnert. "Ich brauche die Zeit, um eine bestimmte Geschichte zu erzählen", meint Hoghe. "Dramaturgisch gesehen, muss man von einem Punkt zum nächsten kommen, ohne darüber nachzudenken – und das gilt auch für die Tänzer." Und manchmal sind die Schritte wörtlich zu nehmen, etwa bei "Boléro Variations" und "Cantatas", wo immer wieder das Bühnenquadrat abgeschritten und jede Episode auf diese Form zurückgebracht wird.
Raimund Hoghes Inszenierungen sind auch Begegnungen unterschiedlicher Künstler. "Ich sehe meine Arbeit auch als Einladung in mein Zuhause, in meine Welt." Was ist das für eine Welt? "Eine klare Welt, in der jeder in seiner Eigenheit sein kann, mit seiner Qualität sein kann. Und es ist vielleicht eine Welt, in der Leute miteinander kommunizieren." Der Mann mit dem berühmt gewordenen Buckel macht kein Behindertentheater, kein Integrationstheater, kein Generationentheater. Und doch steht er auch auf der Bühne für jene anderen Körper, die dort gewöhnlich nicht repräsentiert werden. "Ich bitte nicht darum, aufgenommen zu werden. Ich bin einfach da. Mit den anderen Tänzern. Für uns spielt das Alter keine Rolle, auch nicht die Nationalität, die sexuelle Orientierung, die Unterschiede zwischen den Körpern." Und dann fällt der Satz: "Die Arbeit ist schon eine Suche und Sehnsucht nach Schönheit." Was, oder vielmehr: Wann ist Schönheit? "Wenn man mit sich in Einklang ist." Diese Momente sucht Hoghe, arbeitet sie mit seinen Tänzern heraus. Seine Stücke sind Konzentrate, auch des Menschlichen, sie tasten nach dem Leben. Zum Beispiel "Sans-titre" (2009), eine Choreografie für den kongolesischen Tänzer und Choreografen Faustin Linyekula und die Begegnung zweier außergewöhnlicher Künstler. Linyekula und Hoghe gehen aufeinander zu und wieder auseinander, vermessen den Bühnenraum und mit ihm die Möglichkeit von Nähe. Das Ausstrecken des Arms wird zu einer Berührung des Hinterkopfs, die Bühne zum Spielraum, der mit Körpern vermessen wird. Jeder agiert als ungleicher Spiegel des anderen, und es entwickelt sich eine Beziehung, die sich der einfachen Deutung entzieht, weder Liebeslied noch Freundschaftsgeschichte ist und so die Ambivalenz des Zwischenmenschlichen zum Leuchten bringt. "Ich als Zuschauer kann Möglichkeiten sehen zu leben oder auch anders zu leben. Ich sehe, dass zwei sehr unterschiedliche Leute eine Nähe und einen Austausch haben können, die man nicht unter einem billigen Etikett abspeichern kann." Hier wird sie sichtbar, die Würde, hier wird die Utopie zur Realität. So sind Raimund Hoghes Inszenierungen auch Praxen eines anderen Miteinanders und Blicköffnungen für den Zuschauer.

©Esther Boldt
Tanz Land NRW, Positionen zeitgenössischen Tanzes in Nordrhein-Westfalen, herausgegeben vom nrw landesbüro tanz, Verlag Theater der Zeit, 2014