"Der Buckel als Tanzlandschaft "
In Deutschland oft gehasst, in Frankreich heiß geliebt. Thomas Hahn begegnet Raimund Hoghe in Paris
Thomas Hahn
ballet-tanz Nr. 8/9, 2008


„Schauen Sie, das Centre Pompidou hat meinen Rücken auf seinem Plakat. Sie hätten ja auch einen anderen Bildausschnitt aus „Boléro Variations“ wählen können, nur mit konventionellen Rücken,“ sagt Hoghe in Blickweite seines Auftrittsorts in Paris. Der Buckel als Blickfang, attraktiver als glatte, straffe Adonishaut? „Der Körper als Landschaft!“

Raimund Hoghe gleicht trotz seines hügeligen Rückens nicht etwa einem Felsmassiv der Tanzlandschaft. Im Gegenteil, sein Werk ist ihre Hochebene. Bei der langen Wanderung durch die Plateaus seiner ausgedehnten Bühnenzeiträume spürt so mancher Zuschauerl, wie ihm der Sauerstoff knapp wird. Denn der sanfte Zwerg stemmt sich auch mit der Dauer seiner Stücke, die sich über zwei, drei oder vier Stunden ausdehnen können, gegen den Zeitgeist der heiligen Beschleunigung.

„Rouler sa bosse“ – seinen Buckel rollen, sagt man in Frankreich für rastloses Wandern. Und der Werktätige geht, umgangssprachlich gesehen, nicht arbeiten, sondern „buckeln“: bosser. Es ist also nicht so, dass dort der Buckel als solcher besonders beliebt wäre. Trotzdem spielt Hoghe seine Produktionen hauptsächlich in Frankreich, wo er ein Star der Tanzszene ist, obwohl auch hier seine Werke sich nicht jedem Zuschauer spontan erschließen. „36, Avenue Georges Mandel“, seine Hommage an Maria Callas und an deren intimen Leidensweg am Ende ihres Lebens, hatte im Festival d’Avignon 2007 Premiere und traf dort teilweise auf ein Publikum, das „Tanz“ erwartete, also spektakuläre Bewegung als Erlaubnisschein für den Körper auf der Bühne. Es stieß sich an diesem besonders kargen Solo, in dem Hoghe nur manchmal von Emmanuel Eggermont begleitet wird, aber ähnlich wie Kazuo Ohno eine weibliche Ader in sich aufsteigen lässt. Für Hoghe ist klar: „Man hat eine Verpflichtung der Kunst gegenüber. Daher geht es weniger darum, dem breiten Publikum zu gefallen. Trotzdem weinte so mancher Zuschauer bei der Premiere des Callas-Stücks in Seoul.“

Als Hoghe Dramaturg von Pina Bausch war, stand er im Schatten der großen Dame aus Wuppertal. Heute steht er auf der Bühne, und wissentlich im Schlagschatten der deutschen Vergangenheit, die er in seinen Stücken immer wieder heraufbeschwört, ob explizit oder metaphorisch. Die Konsequenz: „In Deutschland ist meine Arbeit nicht präsent. Wenn ab und zu ein Stück von mir gezeigt wird, kann doch von Präsenz keine Rede sein. Selbst als mir der Produzentenpreis verliehen wurde, änderte sich daran nichts.“ Aber welche Kompanie tourt schon ausgiebig in Deutschland?

„Vielleicht ist das Problem, dass in Deutschland die Arbeit mit andersartigen Körpern in den Bereichen Amateurtheater und Behindertenkunst angesiedelt ist, mit denen ich nichts zu tun habe,“ vermutet Hoghe. Zu deutschen Choreografen pflegt er keinen Kontakt, sie entsprechen nicht seinem Stil und seinem Leben mit der Kunst. Kontakt hält er zu Jérôme Bel, Boris Charmatz, Christian Rizzo und anderen französischen Performern. Was diese aber kaum tun: Hoghe genießt in der Pariser Opéra, was seinem eigenen Schaffen am stärksten entgegen steht: Casse-Noisette, La Bayadère, Giselle...

Auf der anderen Seite des Rheins ist der Blick auf seinen Rücken freier, unbefangener. Da leuchtet in den Augen ästhetisch rezipierender Intellektueller sein Buckel wie die gefalteten Schwingen eines Schwans oder gar eines Engels. Und die in seinen Stücken immer wiederkehrenden Verweise auf das Schicksal von Juden, Homosexuellen und Behinderten im Nationalsozialismus haben dort längst nicht den Beigeschmack des eingebläuten Schuldkomplexes, des moralischen Horts der politischen Tugend. Der Buckel als Spreng-Körper der ästhetischen Norm, als Bilderstürmer spiegelglatter Oberflächlichkeit kennt nur ein Ziel: die Kunst als solche.

„Ich hätte nie gedacht, dass in „Boléro Variations“ die deutsche Vergangenheit wieder Einzug halten würde, aber es hat sich dann so entwickelt.“ Anita Lasker-Walfisch, die Auschwitz überlebte, spricht von ihren Leiden und Privilegien, als sie im KZ ins Orchester aufgenommen wurde. „Sie sagte eigentlich das Gleiche wie ich: Sie spielte nicht für die SS, sondern für die Musik selbst.“ Hoghe stellt seinen Körper der Kunst und der Passion zur Verfügung, und das wird außerhalb Deutschlands einfach universeller rezipiert.

„Meinen Körper zu zeigen ist doch eine Kleinigkeit, wenn ich es mit den Aufnahme vergleiche, die Pasolini am Ende seines Lebens von sich machen ließ oder mit Hervé Guibert, der in seinem Film von Aids gezeichnet nackt ins Wasser steigt, oder wenn ich an einen afrikanischen Tänzer denke, den ich auf dem Klapstuk-Festival sah, der völlig abgemagert auf die Bühne ging. Ich schrieb zu der Zeit auch viel über Aids, sah viele stark veränderte Körper, aber entdeckte auch bei Todkranken zum Teil große Schönheit."

Aber ist es wirklich sein Buckel, der in Deutschland verstört, der Buckel als Missbildung? Oder ist es die Wahrnehmung als Verweis auf die Pestbeule deutscher Vergangenheit, auf die doppelte historische Schmach von moralischer und militärischer Apokalypse, auf alle Scham, von der sich das Land erst kürzlich befreien wollte mit Fahnen, Tröten und Jubelchören im kollektiven Rausch das Anhimmelns perfekt gebildeter, balltretetender Körper, wie in einer exorzistischen Trance? Doch sie können noch so geschickt die Bälle anschneiden, Hoghes dorsaler Maulwurfshügel vereitelt jeden Versuch, die eigene Geschichte zu tunneln. Seine Erhebung ist der Seismograph verdrängter und verleugneter Intoleranz. Sie beweist, dass Projektionsflächen nicht immer glatt sein müssen.

Für ihn selbst ist es „eine Frage der Einstellung zum Körper und zur Sexualität. In Frankreich und England reagiern die Menschen anders auf meinen Körper. Dort wurde meine Arbeit von Anfang an akzeptiert. Und wenn in Deutschland von schwulen Künstlern die Rede ist, denkt man in der Regel an Travestie, Comedy und an Schrilles. Unterhaltung wird akzeptiert. In England dagegen gibt es eine Live-Art Szene, wo es auch härter zur Sache geht. In Deutschland reagieren gerade Kritikerinnen wahnsinnig agressiv auf meine Stücke. Dabei stelle ich die Beziehungen zwischen Männern mit Distanz dar, als eine Möglichkeit. Mehr nicht. In anderen Ländern werde ich ganz anders akzeptiert, selbst als Person auf der Strasse. Die Akzeptanz gegenüber andersartigen Körpern ist einfach höher.“

Ein Buckel als Lackmustest für gesellschaftliche Toleranz, als Speerspitze im Kampf gegen Diskriminierung aller Art. „Warum darf ein Körper nicht anders sein, warum dürfen Menschen nicht verschiedene Formen von Sexualität leben? Warum kann, wenn in Deutschland die Bahn streikt, der Japaner in unserer Kompanie sein Bahnticket kostenlos umbuchen, der Marokkaner aber nicht? Warum ist für ihn im Restaurant der Tisch nicht frei, oder nur der ganz hinten in der Ecke? Warum sprechen selbst intelligente Tanzautoren mir das Recht ab, meinen Körper zu zeigen? Was ist skandalös an ihm?“ Hoghe arbeitet an der Ästhetik des Buckels, der auf der Bühne seine eigene Welt erschafft. Wie jeder Performer sucht er den Blick der Anderen auf seine Person und seinen Körper. Auf der Bühne hilft die Herausforderung, sich lebendig zu fühlen. „Aber sie ist keine therapeutische Einrichtung, es geht um Ästhetisches!“ Nur im Leben ist ein Tänzer nie so bekannt, dass er durch das Prisma seiner Kunst wahrgenommen würde. „Im Strandbad fürchte ich die Blicke auf meinen Buckel. Aber das Wort als solches kann ich inzwischen akzeptieren, außer wenn damit die Wertung als „hässlich“ einhergeht, die sich unterschwellig auch in den Überschriften vieler Artikel ausdrückt, etwa wenn ich anlässlich meines Schwanensee als „Hässliches Entlein“ bezeichnet werde.“

Und wird der Buckel eines Tages weniger Raum einnehmen? Bei der Frage zucken die Mundwinkel. „Weder in „36, Avenue George Mandel“ noch im „Sacre“ ziehe ich mein T-Shirt aus. Ich finde, da wird der Buckel nicht inszeniert. Aber ich werde mich keiner Schönheitsoperation unterziehen. Ich kann und will meinen Körper nicht ändern. Und wenn in „Boléro Variations“ alle ihr T-Shirt ausziehen, soll ich meins anbehalten um ihn zu verstecken?“

Die perfekten Rücken wirken neben Hoghe plötzlich, als fehle ihnen ein zentraler Körperteil. „Das hat auch damit zu tun, dass es für mich viel formaler ist, als die Leute denken, wenn ich den Körper nackt präsentiere. Da interessiert mich nicht Psychologie oder das Zeigen einer Behinderung, sondern die Form.“ Und da ist er wieder: „Der Körper als Landschaft", als lebendige Skulptur.

Hoghes Hügel destabilisiert den Blick auf den glatten, aber letztendlich nichts sagenden „normalen Körper“ und stellt dessen Wertekodex infrage. Welche Geschichte erzählt denn ein glatter Rücken auf einer Bühne? Nicht umsonst bedurfte es der Revolution Cunninghams im Tanz und der Abschaffung aller Hierarchie der Körperteile, um dem Rücken überhaupt zu einer Art Daseinsberechtigung im Auge des Tanzzuschauers zu vehelfen. Und es bedurfte der Entwicklung der Bildersprache der Performer, um einen Rücken wie Hoghes als ästhetisch interessant durchzusetzen. Kein Wunder also dass er in Frankreich am leichtesten auf Interesse stösst, dort wo Jérôme Bel, Xavier Le Roy und viele Andere seit zwanzig Jahren der Idee der schönen, eleganten Bewegung mit Brüchen und Subversion zu Leibe rücken. Man kann noch Maureen Fleming dazu zählen und Lia Rodriguez, die die unmöglichsten Verrenkungen erfinden, um den Körper als fremd erscheinen zu lassen und den Blick auf ihn zu verstören. Hoghe braucht nur die Bühne zu betreten und sich nur für diese oder jene Beleuchtung zu entscheiden. Je nach Wahl der Lichteffekte kann er entweder zeigen, dass auch ein unkonventionell geformter Rücken den ästhetischen Reiz von Hochglanzfotos erklimmen kann, oder das Publikum auffordern, der Missbildung ins Auge zu blicken und sie in schmuckloser Unschuld zu akzeptieren. „Boléro Variations“ zeigt beides.

Trotz aller Schlichtheit und Langsamkeit sind die Figuren in Hoghes Stücken ständig in Bewegung, selbst wenn es eine unterbrochene Bewegung ist. Mit Pose hat das nichts zu tun. „Etwas muss sich immer bewegen, und wenn es nur ein Finger ist.“ So bleibt Bewegung ständig präsent, und aller Stillstand vibriert, ganz im Gegensatz zum romantischen Ballett wo Bewegung oft als verkappte Pose im Sprung daherkommt, wo das Überwinden der Schwerkraft eine Aufhebung der Zeit darstellt, mit dem Ziel, durch stereotypes Lächeln eine Flugbahn als Pose im Auge des Betrachters einzubrennen.

Hoghe engagiert Tänzer auf hohem Niveau. "Sie sollen eine unheimliche Präsenz entwickeln, aber ohne dass sie jetzt groß ihre Fertigkeiten demonstrieren. Wenn Tänzer neu hinzukommen, erkläre ich ihnen immer, dass ich es spannender finde, wenn man gebannt auf jemanden schaut, der eigentlich gar nichts macht, nur kleine Gesten“. Hoghe fordert: "Weg vom Entertainment!“ und staunt: „Das Merkwürdige ist, dass gerade junge Zuschauer viel mit meiner Arbeit anfangen können. Da schickt mir dann ein Achtzehnjähriger spontan ein Gedicht von Baudelaire...“

Der hohe Grad an Sensibilität, das Meditative, die Langsamkeit, die Nähe zum Ritual stemmen sich dem Zeitgeist des Zapping entgegen und machen aus Hoghe eine Art Gandhi der Performance. Hinzu kommt ein strenger Sinn für Ordnung. In „Boléro Variations" schreitet er immer wieder im Karree um die Bühne. Das schafft Verbindung zum Publikum und ist ein starker Verweis auf das Vergehen der Zeit. Am Abend der Premiere verstarb Maurice Béjart, dessen Bolero er so bewundert. Und Ornella Ballestra, Ex-Solistin bei Béjart, gehört wieder mit zur Kompanie. Ein weiterer Verweis auf Zyklisches: „Ich habe schon einmal mit dem Bolero gearbeitet, das war ganz am Anfang. Ich wollte hier einen anderen Blick auf ein Stück Volkskultur werfen." Darum gibt es neben Ravel diverse Formen von Boléro, von „Besame mucho" bis „Somos novios".

Mit seinen letzten beiden Stücken zeigt er sich besonders radikal, schlicht und schmucklos. In welche Richtung möchte er sich entwickeln? „Das kann man ja nicht planen. Aber ich würde gerne ein Stück mit einem Sänger kreieren, und zwar a capella, oder einen Film machen." Aber die nächsten zwei Jahre sind bereits ausgebucht.

Es gab ohnehin nie einen klaren Bruch bei ihm. „Eins ging immer ins andere über. Aus der journalistischen Arbeit und den vielen Porträts, aus meinem Interesse für Menschen entstand die Begegnung mit Pina die nun fast dreissig Jahre zurück liegt. Aber die sehr unterschiedlichen Körper der Tänzer in der Kompanie, was damals als Konzept noch neu war, erlaubten mir, ein anderes Verhältnis zu meinem Körper zu entwickeln. Als dann aber Pina ihre alten Stücke wie „Iphigenie auf Tauris“ wieder aufnahm und viele Tänzer die Kompanie verließen, hatte ich meine Mission bei ihr erfüllt. So begann ich mit Lesungen meiner Bücher, und das sind ja auch Auftritte. Ich inszenierte sie mit Elementen wie Blumen, Kerzen oder Wasser und Musik. Bevor ich mein erstes Solo aufführte, war ich Dramaturg für Andere, saß aber schon mit auf der Bühne. Heute schreibe ich auf der Bühne, mit meinem Körper. Dass meine Stücke prägnante Titel haben, liegt auch in meiner Arbeit als Autor begründet. Viele Stücke haben heute Wischiwaschi-Titel, die sich keiner mehr merken kann. Ich denke noch immer zurück an die Tänzerpersönlichkeiten bei Pina, an die so unterschiedlichen Charaktere und die unheimlich starken Frauen in der Kompanie. Und an alles, was die Generation von vor fünfundzwanzig Jahren schon radikaler und besser machte als viele Arbeiten, die ich heute sehe. Diese Zeit hat mich sehr geprägt. “


©Thomas Hahn
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