"Den Körper in den Kampf werfen"
Behinderungen schockieren auf der Bühne oft mehr als Gewalt: ein Plädoyer für das Unperfekte
Raimund Hoghe
"du - Zeitschrift für Kultur" 765, Nr. 3, April 2006, Supplement STEPS-Festival


"Den Körper in den Kampf werfen" schreibt Pier Paolo Pasolini und sein Satz hat sich festgesetzt nicht nur in meinem Kopf. Er war auch ein Anstoß, auf die Bühne zu gehen - mit einem Körper, der selten auf einer Bühne zu sehen ist. Wenn Körper wie meiner im Theater oder in Filmen erscheinen, dann fast immer in speziellen und sehr reduzierten Rollen - dass das so ist, weiß ich seit meiner Kindheit. Als ich mich während der Schulzeit am Theater in Wuppertal um eine Statistenrolle in einer Aufführung der "Räuber" von Schiller bewarb, wurde ich nicht genommen. Doch ein halbes Jahr später durfte ich in Shakespeares "Komödie der Irrungen" auftreten: als buckliger Schneider. Das war eine der Rollen, die für Leute mit meinem Körper vorgesehen sind - eine andere war die des Rumpelstilzchen im Märchen, das ich in einer Schulaufführung spielte. "Ach wie gut, dass niemand weiß..."

Mein erstes Solo "Meinwärts" ist 1994 entstanden, in einer Zeit, als sehr viele Leute an Aids gestorben sind - auch Freunde von mir. Ich hatte mich als Journalist sehr intensiv mit der Krankheit und den Reaktionen der Gesellschaft auf Aidskranke auseinandergesetzt, aber ich wollte zu diesem Thema auch etwas auf der Bühne sagen - schließlich sind auch viele Tänzer an Aids gestorben, prominente wie Rudolf Nurejew, Dominique Bagouet und eher unbekannte. Und mir war klar: Wenn ich zu Stellung beziehen will, muss ich das selbst tun - ich kann nicht einem Tänzer mein politisches Statement auf den Körper schreiben. Ich muss das mit meinen Körper machen. Dabei geht es nicht um meine persönliche Geschichte, meinen persönlichen Körper. Ich wollte einfach meinen Körper als Beispiel nehmen und sagen: "Diesen Körper gibt es auch. Es gibt andere Körper als die bekannten Tänzerkörper."

"Man geht ins Theater, um zu schauen, und nicht, um wegzugucken", erklärte mir in einem Interview der behinderte Schauspieler und Autor Peter Radtke, der im Rollstuhl sitzt und die sogenannte Glasknochenkrankheit hat "Meine Knochen brachen bei der Geburt klirrend wie Glas - und ich lag da in schillernden Scherben", sagte der 42jährige in George Taboris Medea-Version "M", in dem er das Kind von Medea und Jason spielte. Einmal, als er die Mutter auffordert, "Schau mich doch an", und sie davon redet, dass doch alle Menschen irgendwie behindert seien, reißt er sich den Anzug auf und hält ihr seinen deformierten Oberkörper entgegen: "Wolltest du mit mir tauschen?" Menschen wie Peter Radtke haben mir durch ihre Arbeit Mut gemacht, auf die Bühne zu gehen und meinen Körper zu zeigen. Ein anderer: der Butoh-Tänzer Kazuo Ohno, der noch mit über achtzig Jahren aufgetreten ist und auf der Bühne Kind sein konnte und Greis, Mann und Frau. 2003 habe ich ihn in seinem Studio in Japan noch einmal getroffen. Kazuo Ohno leidet seit einigen Jahren an Alzheimer, aber die Erinnerung an den Tanz war noch in seinem Körper. Als eine Platte von Maria Callas gespielt wurde, kamen die Erinnerungen zurück und Kazuo Ohno machte mit seinen Händen die gleichen Bewegungen wie Jahre zuvor auf der Bühne. Ihm war bewusst, dass er sich an vieles nicht mehr erinnern kann und dass er krank ist, aber mit dem Körper konnte er sich erinnern an das, was einmal wichtig war in seinem Leben. Und als er mit seinen Händen tanzte war wie auf der Bühne wieder diese besondere Kraft zu spüren - die eines gelebten Lebens und eines Körpers, der alt ist und der Würde hat und eine Schönheit, die sich gängigen Normvorstellungen entzieht.

Meine Arbeit ist für mich auch ein Anlass, über Schönheit zu sprechen. In meinen Stücken benutze ich Musik, die ich als sehr schön empfinde, und Materialien, die ich schön finde. Als Kontrast setze ich meinen Körper, den man im Allgemeinen als nicht schön empfindet, der häufig als hässlich beschrieben wird oder ins Reich der Märchen versetzt wird. "Schneewittchen und ihr Zwerg³, "Die Schöne und der Bucklige" oder "Der Schwanensee des hässlichen Entleins" kann ich immer wieder in deutschen Zeitungen über mich und meine Arbeit lesen und es stört mich, dass eine Abweichung von der körperlichen Norm in Deutschland immer wieder mit hässlich verbunden wird ­ in Frankreich, Belgien oder England geschieht das nicht. Man kann schreiben, dass ich einen Buckel habe, damit habe ich kein Problem, ich wehre mich nur gegen die Gleichsetzung anders gleich hässlich. Und wer definiert, was schön ist und was hässlich? Ist Arnold Schwarzenegger schön? Sind gespritzte Lippen erotisch? Sind die durch Silikon vergrößerten Brüste schön? Und sind die starren Gesichter der gelifteten Frauen und Männer schön?

Mein erstes Solo "Meinwärts" zitiert im Titel ein Gedicht von Else Lasker-Schüler, deren Arbeit ich seit meiner Schulzeit liebe. Ich habe den Titel "Meinwärts" auch deshalb gewählt, weil es darum geht, zu sich zu gehen ­ für mich als Autor, aber auch für den Zuschauer. In meinen Stücken hat der Zuschauer Zeit, in sich reinzuhören, sich zu erinnern, die eigene Geschichte zu erinnern. Eine Autorin aus Norwegen hat in ihrer Magisterarbeit geschrieben, dass die Zuschauer meiner Stücke auf sich selbst zurückgeworfen werden - einmal durch den Faktor Zeit, zum andern aufgrund meines Körpers. Ihre These ist, dass Menschen häufig in Tanzvorstellungen gehen, um einen schönen Körper zu sehen und sich mit diesem schönen Körper zu identifizieren. Was mehr oder weniger gelingt, weil die meisten Tänzer bestimmten Idealvorstellungen entsprechen. In meinen Vorstellungen fällt diese Identifikation mit dem Körper weg - wer will schon eine Behinderung haben? Da der Zuschauer nicht die Möglichkeit sieht, sich zu identifizieren, ist er auf sich zurückgeworfen. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als den eigenen Körper zu spüren - oder das Theater zu verlassen. Ich finde es wichtig, dass die Zuschauer sich und ihren Körper spüren - es geht schließlich nicht um meinen Körper, der ist nur stellvertretend da.

Meine Stücke sind keine autobiographischen Stücke. Ich will auf der Bühne nicht persönliche Probleme verarbeiten. Theater ist nicht das Leben und auch keine Therapie. Ich kann meinen Körper auf der Bühne zeigen und es ist etwas anderes, wenn ich denselben Körper in einem Schwimmbad oder am Strand zeige. Es hilft mir dort nicht, dass ich meinen Körper auf der Bühne gezeigt habe - der Theaterraum und die Kunstform sind auch ein Schutz. Dass das Entblößen meines Rückens bei manchen Betrachtern und Kritikern als Provokation gedeutet wird und weit mehr Entrüstung auslöst als die Darstellung von Gewalt erschreckt und verwundert mich immer wieder. Was ist das, was man nicht sehen will? Die eigene Verletzlichkeit vielleicht oder die Angst vor dem, was anders ist? Warum darf ich mein T-Shirt nicht ausziehen, nur weil ich einen Buckel habe?

Mich interessiert die Verbindung von persönlicher Biographie mit kollektiver Biographie. Zum Beispiel in "Meinwärts". Ein Thema darin ist die Geschichte des jüdischen Tenors Joseph Schmidt, der 1933 Deutschland verlassen musste und dessen Lieder im Stück zu hören sind. Er ist vor den Nazis quer durch Europa geflohen und starb 1942 in einem Internierungslager in der Schweiz. 1933 wurde sein Film "Ein Lied geht um die Welt" in Berlin uraufgeführt und in Rezensionen der Naziblätter wie "Völkischer Beobachter" wurde immer wieder sehr deutlich Bezug auf seinen Körper genommen. Er sei klein, hässlich und unübersehbar ein Jude, hieß es. Das Hervorheben der Körpergröße kenne ich auch aus etlichen Kritiken über mich. Ich bin 1,54 m groß und viele Tänzer sind nicht sehr viel größer, aber bei ihnen wird es in Kritiken nicht erwähnt. Bei mir wird die Größe dagegen immer wieder zum Thema gemacht - wie bei Joseph Schmidt in der Nazizeit. Interessanterweise taten die Nazischreiber das nicht bei Heinz Rühmann, der kaum größer war als Joseph Schmidt. Aber Rühmann war Teil der Unterhaltungsmaschinerie des "Dritten Reiches", und einen Star wie ihn wollte man nicht "klein machen" - dafür hatte man sich andere ausgesucht. Zum Beispiel den Juden Joseph Schmidt, der zuerst diskriminiert und dann verfolgt wurde.

Ich komme aus Deutschland und beziehe mich auf deutsche Geschichte. Ich tue es auch deshalb, weil ich es wichtig finde, an den Umgang mit Menschen und Körpern in der Nazizeit zu erinnern. Ich frage, was an Ausgrenzung im "Dritten Reich" möglich war und in anderer Form wieder möglich wird, was heute mit Körpern geschieht. Es wird wieder über "lebenswert" und "nicht lebenswert" entschieden und Kinder mit schweren Behinderungen können noch im sechsten oder siebten Monat abgetrieben werden. Wenn man zum Beispiel feststellt, dass das Kind ein Down-Syndrom haben wird, kann die Schwangerschaft auch noch zu diesem Zeitpunkt abgebrochen werden. Wir hatten in der deutschen Geschichte schon einmal die Selektion von Menschen, die nicht den Vorstellungen von Normalität entsprachen, und es sollte nicht vergessen werden, wo das hingeführt hat. Deshalb ist es wichtig, dafür zu kämpfen, dass andere Körper sichtbar bleiben ­ auf der Bühne und im Alltag.

In meiner Kindheit sah man sehr wenige Behinderte auf der Straße, ob Gehörlose oder Rollstuhlfahrer. Mit welcher Behinderung auch immer, sie wurden einfach weggesperrt, die kamen einfach nicht auf die Straße. Heute werden Behinderte oft gar nicht erst geboren, weil man das Leben eines Behinderten nicht für ein lebenswertes Leben hält. Dagegen wehre ich mich. Ich will, dass verschiedene Körper existieren können ­ auch verletzte und deformierte Körper. Ich sage nicht, dass es toll ist, einen Buckel zu haben, aber ich sage auch, dass ich kein hässliches Entlein bin und nicht als Märchenfigur oder Freak behandelt werden will.

Das Meer ist schön und die Berge sind hässlich - das kann man so nicht sagen. Es gibt Berge und es gibt das Meer und man kann nicht sagen: Die Berge sollen alle weg, wir wollen nur noch flaches Land. Und vergleichbar mit den verschiedenen Landschaften sind für mich auch die Körper von Menschen. Der Körper ist wie eine Landschaft und es geht darum, dass man sorgsam mit ihnen umgeht - mit Körpern und Landschaften.

©Raimund Hoghe