"Konzentrat meditativer Ruhe und tänzerischer Poesie"
„Musiques et mots pour Emmanuel“ beim Festival Move! in der Fabrik Heeder


Mit Raimund Hoghe gastierte bei dem Festival „Move! 16. Krefelder Tage für modernen Tanz“ ein prominenter Choreograf der freien Szene. Hoghe lebt in Düsseldorf und Paris. In Frankreich wird der melancholische Meister des getanzten Minimalismus‘ seit Jahrzehnten als Star gefeiert. Seit er in NRW die Spitzenförderung des Landes erhält – also seit fünf Jahren –, sieht man den 1,54 Meter kleinen Tanzkünstler, Autor, Filmemacher und ehemaligen Dramaturgen von Pina Bausch und sein Werk erfreulicherweise häufiger. In der Fabrik Heeder zeigte er jetzt „Musiques et Mots pour Emmanuel“, eine Hommage an den französischen Tänzer Emmanuel Eggermont anlässlich ihrer zehnjährigen Zusammenarbeit. Das Tanzstück, uraufgeführt 2016 im Pumpenhaus Münster, liest sich aber auch wie eine Verbeugung vor der Bühnenkunst selbst. Doch es käme nicht aus Raimund Hoghes Feder, enthielte es nicht hier und da gesellschaftspolitische Anspielungen.
Die Tribüne in der Fabrik Heeder war entsprechend stärker besetzt als bei anderen Tanz-Vorstellungen. Und wer dort saß, schaute 75 Minuten lang gebannt auf die weiß ausgeschlagene Bühne, wo ein feinsinniger Tänzer mit einem wunderbar durchlässigen Körper sein eigenes Geschenk zu Musik und Texten aus verschiedenen Epochen interpretierte: ein Konzentrat meditativer Ruhe und tänzerischer Poesie – und als solches ein Geschenk gleichermaßen für das Publikum. Formstreng und dennoch unkonventionell – ein auch in seiner choreografischen Originalität herausragender Abend.
Die Architektur der ehemaligen Tapetenfabrik mit ihren umlaufenden Galerien und den Eckpfeilern, die die Szene definieren, kommt Raimund Hoghe da entgegen. Gleich zu Beginn schreitet er eilig das Karree um die Bühne ab. In der Hand trägt er ein Miniatur-Kanu. Später wird er einen Brief verlesen von zwei afrikanischen Jungen, 14 und 15 Jahre alt. Sie bitten die Mächtigen in Europa um Hilfe für die Kinder und Jugendlichen in ihrem Land. Die beiden sind, wie der Künstler mit der angeborenen Rückgratverkrümmung hinzufügt, auf der Flucht als blinde Passagiere im Triebwerk eines Flugzeugs ums Leben gekommen. Diesen Brief trug Hoghe schon 1999 in „Lettere amorose“ vor. Das Schicksal von Flüchtlingen hat einen wie ihn noch nie kalt gelassen.
Auch Luca Giacomo Schulte, bildender Künstler und langjährige Mitarbeiter, schreitet das Bühnenquadrat immer wieder ab. Wenn Hoghe und er in Erscheinung treten, ist es, als sollte der völlig verinnerlicht agierende Emmanuel Eggermont sich einer Außenwelt vergewissern. Oder als sollten Personen aufgerufen werden, die in den (Song-) Texten vorkommen. Der Tänzer formuliert vornehmlich mit den Armen und Händen. Er dreht keine eleganten Pirouetten, springt keine x-fachen Entre-Chats oder umrundet seine Tanzfläche in Grand-Jetés. In kristallin-klaren Linien dekliniert er ein Vokabular durch, zu dem er seinen Choreografen inspiriert hat. Die typische Faun-Pose aus dem Nijinsky-Solo „L'Après-midi“, das Hoghe 2008 für ihn schuf und mit dem die beiden um die Welt gereist sind, ist ein wiederkehrendes Motiv. Genauso gekreuzte Vorwärts- und Rückwärtsschritte, abgeknickte Hände und Arme, fließende Armschwünge, Posen mit gebeugtem Rücken oder in der Hocke mit abgewickelten Ellenbogen. Zu barock-höfischer Musik neigt der noble Tänzer ergeben den Kopf. Zu einer Originalaufnahme des Schauspielers Oskar Werner, der Max Reinhardts „Rede über den Schauspieler“ rezitiert, posiert er vornehm, andächtig, gestelzt, nachdenklich oder demütig.
„Musiques et Mots pour Emmanuel“ ist ein Abend von großer Ernsthaftigkeit. Er zelebriert die Kunst des Geehrten und dessen Bravour der Petitessen. Aber Hoghe stellt auch die optische Makellosigkeit dieses gut aussehenden Tänzers und seinen (fast) unbekleideten Körpers in der Rückenansicht aus. Und kontrastiert diesen, wie er es immer gern getan hat, mit seiner eigenen Körperlichkeit, die er als „Landschaft“ bezeichnet. Von Würde, ja Höflichkeit ist diese Hommage geprägt. Eine schöne Geste, wie Raimund Hoghe im Hintergrund die abgelegte Kleidung Eggermonts aufhebt und sorgfältig zusammengelegt– wie ein Vater, der sich in das Zimmer seines schlafenden Kindes stiehlt.
Es gibt einen einzigen Moment, der schmunzeln lässt. Eine englischsprachige Sängerin bemüht sich nicht wirklich erfolgreich, Jacques Brels Chanson „Ne me quitte pas“ korrekt auszusprechen. Bei dieser wohl anrührendsten Interpretation gerät Eggermont immer wieder aus der Balance. Um dann die Arme wie zur Umarmung zu formen und geschmeidig umeinander zu bewegen: Als wäre ihm die geliebte Person abhandengekommen. Sein Gesicht bleibt dabei, wie die ganze Zeit über, emotionslos. Und hier liegt eben die große Kunst des Raimund Hoghe: mit den kleinen Dingen die großen Gefühle zu wecken.

©Bettina Trouwborst
Tanzweb, 21. Oktober 2017