"Räume, die sich wandeln, Bilder, die bleiben"
Zur Verleihung des Deutschen Tanzpreises 2020 an Raimund Hoghe
Katja Schneider
Der Tanzpreis 2020 ehrt einen Künstler, der die Risse, die durch die Welt gehen, sieht, hört, empfindet.
Eigentlich könne man gar nicht mehr fragen, wie es einem gehe, in diesen Zeiten. Und damit meinte Raimund Hoghe auf meine Frage nicht die Covid-19-Pandemie.
Nicht seine persönliche Situation. Er bezog sich auf die Geflüchteten in griechischen Lagern. Auf deren Elend und die europäische Trägheit und
Untätigkeit zu helfen. Schon vor über zwanzig Jahren, im Stück Lettere amorose (1999), gab er zwei Jugendlichen, die versucht hatten, aus Afrika als blinde
Passagiere im Fahrgestell eines Flugzeugs nach Europa zu kommen, Stimme, Gehör, Raum und ihren Namen: Yaguine Koita und Fodé Tounkara. Sans-tître (2009),
das Stück mit und für Faustin Linyekula, kann als Totenklage gelesen werden, als ein Stück der Trauer, das all denen einen Ort gibt, die geflohen, illegalisiert,
umgebracht wurden. Die es nicht geschafft haben, die Grenzen zu überwinden, die Europa hochzieht. So wie Alan Kurdi, der kleine Junge, der tot an den Mittelmeerstrand
gespült wurde und dessen Foto 2015 zum Emblem für die Not der – nicht nur syrischen – Flüchtlinge geworden ist. Was kann man noch sagen? In La Valse (2016) legt
sich Raimund Hoghe schweigend in der Position des Kindes auf den Boden. Hinsehen. Einem Blick Gestalt verleihen. Vielleicht ist es das, was gute Kunst ausmacht. Und guten
Journalismus. Gute Texte, wie sie der Journalist und Dramaturg Hoghe unter anderem im Kontext der Wochenzeitung „Die Zeit“, in Büchern und über Pina Bausch und das
Tanztheater Wuppertal veröffentlichte.
Der Tanzpreis 2020 ehrt einen Künstler, der sich weigert zu vergessen.
Vergessen, sagte Raimund Hoghe, das sei eine sehr private Idee. Vergessen, wie macht man das? lautet der Titel einer Reportage über seine Begegnungen in einem
jüdischen Altenheim in Düsseldorf. Erinnerungen wachhalten, indem man sie mit der Gegenwart verbindet, das ist das künstlerische Programm seiner frühen
Stücke der 1990er Jahre. Er bringt in Meinwärts (1994) den im Nationalsozialismus verfolgten Tenor Joseph Schmidt zusammen mit Erinnerungen an seine eigene
Kindheit – „Er sei zu klein für sein Alter, sagen die Leute“ –, schattiert ihn mit Verbalaggressionen gegenüber an Aids Erkrankten. Raimund Hoghe entwirft in seinen
Stücken Mentalitäts- und Zeitgeschichten. Erinnern als Kompetenz. In zeit-räumlicher Aufeinanderblendung verbindet er individuelle und kollektive Erinnerungen mit
aktuellen Beobachtungen. Er selbst tritt als Gastgeber in Aktion. „In einer Arbeit, die sich mit Vergangenheit beschäftigt, gehen neue Türen auf“, sagte er.
Der Tanzpreis 2020 ehrt einen Künstler, der das Individuum mit dessen eigener Geschichte und vielen Geschichten umgibt.
Raimund Hoghe öffnet ein Archiv kulturellen Gedächtnisses. Deutschland im Nationalsozialismus. Wuppertal in den fünfziger und sechziger Jahren. Die Figur der
Maria Callas (36, Avenue Georges Mandel) (2007). Der französische Tänzer Dominique Bagouet, der 1992 an den Folgen von Aids gestorben ist. Der lebt in dem Stück
Si je meure laissez le balcon ouvert (2010), dessen Titel einem Gedicht von Garcia Lorca entnommen ist. Hier trifft er sich mit Hervé Guibert, dem französischen
Schriftsteller und Photographen, der wie von selbst in das Stück Eingang findet. Raimund Hoghe arbeitet konsequent und programmatisch intertextuell. Seine Arbeiten sind
reich an Verweisen, Zitaten, Anspielungen und Beziehungen. Bezüge herzustellen, mit biographischen, historischen, politischen Schattierungen, das macht einen wesentlichen
Teil seines reichen Werkes aus. Er begeistert sich für individuelle Biographien, für Menschen mit ihren Sehnsüchten und Träumen. Er zeugt davon, wie sie sich
behaupten. Menschen aus der Anonymität in die Präsenz seiner Bücher, seiner Filme und seit den 90er Jahren auf die Bühne zu holen, das ist bei Raimund Hoghe auch ein
politisches Programm. Er lässt erzählen und merkt sich die leisen Zwischentöne. Er gibt Raum – wie in seinem jüngsten Film, „La jeunesse est dans la tête“,
Marie-Thérèse Allier, Begründerin der Menagerie de verre in Paris.
Raimund Hoghe lernte von vielen. Von Pina Bausch, deren Dramaturg er war, der erste Tanzdramaturg im zeitgenössischen Sinn, wie es heißt. Er lernte von Peter Brook. Vom japanischen
Theater. Kazuo Ohno, die Gruppe Sankai Juku und deren Leiter, Ushio Amagatsu, waren wichtig für ihn. Und immer wieder: Else Lasker-Schüler, die Dichterin aus Wuppertal, und
Pier Paolo Pasolini, dessen Satz: „Den Körper in den Kampf werfen.“ zu seinem Werk-Motto geworden ist. „Nicht mit lauten Aktionen, sondern in leisen Szenen, nicht als
Selbstbespiegelung, sondern als exemplarisches Subjekt zeigt Hoghe, was es heißt, ein Anderer zu sein und zu einem Anderen gemacht zu werden – und daß es auch anders sein
könnte“, schrieb Edith Boxberger vor fast 20 Jahren.
Der Tanzpreis 2020 ehrt einen Künstler, der das Dunkle und das Kleine liebt.
Das Stück über Bagouet beginnt in abgrundtiefer Schwärze zu einem Trauermarsch. Mut zur Dunkelheit. Zur japanisch anmutenden Leere. Die Bühne ist groß. Sehr dunkel.
Schwarz ausgehängt. Hinsehen. Liegt dort etwas? Jemand? Was sind das für Ansichtskarten, die im Verlauf von Postcards from Vietnam (2019) immer wieder neu eingesammelt,
getragen, überreicht, ausgelegt werden. Die Welt der Dinge, die hier entsteht, ist oft schwer zu erkennen: Teelichter, ein Paar Schuhe, ein Fächer, Blumen, ein Bogen
Goldfolie, Sand, Photographien. Bunte Lämpchen. Eiswürfel. Kaffeebohnen. „Wenn Raimund sagt, hier bitte noch drei Prozent weniger Licht, dann stimmt das auch“,
sagt die Fotografin Rosa Frank, die ihn von Anfang an begleitet. Aus der Dunkelheit erwachsen seine Aktionen in luzider Klarheit. Wir sehen Raimund Hoghe bei
Verrichtungen zu. 80 mal bückt er sich in Sans-tître, 80 mal nimmt er ein weißes Blatt Papier vom Stapel, geht in die Knie, legt das Blatt auf die Bühne, erhebt
sich wieder, geht einen Schritt weiter, bückt sich erneut. Er schreitet den Raum aus. Vermisst ihn mit seinem Körper. Bereitet ihn für andere. Wir sehen zu. Hinsehen.
Der Tanzpreis 2020 ehrt einen Künstler, der uns zuhören lässt.
Das Prélude à l’Après-midi d’un faune von Claude Debussy am Beginn von Meinwärts. In voller Länge. Raimund Hoghe sitzt auf einem Stuhl und hört zu. Elly Ameling singt
Bachs Motette Exsultate, jubilate am Beginn von Lettere amorose. In voller Länge. Raimund Hoghe lehnt an der Bühnenrückwand und hört zu. Another Dream beginnt
mit dem „Adagietto“ aus der Symphonie Nr. 5 von Gustav Mahler – Visconti verwendete es in Der Tod in Venedig. In voller Länge. Raimund Hoghe geht im Geviert über
die Bühne und trägt ein schaukelndes Schiffchen. Wir hören zu. Darauf folgt ein Chanson von Dalida. Judy Garland. Peggy Lee. Einspielungen sind wichtig. Zuhören.
So arbeitet er auch mit Tänzerinnen und Tänzern. Er bittet, zuzuhören und zuzusehen. Galina Ulanowa in Schwanensee. Porträts der Plissetzkaja. Immer wieder der
Boléro von Béjart. Die Eiskür von Jayne Torvill und Christopher Dean aus dem Jahr 1984 zum Bolero von Ravel. Intensives Hinsehen. Nicht um zu kopieren, sondern
um in die Atmosphäre einzutauchen und Verbindungen zu erkennen. Die Musikdramaturgie seiner Stücke ist einen eigenen Preis wert.
Der Tanzpreis 2020 ehrt einen Künstler, der Begegnungen schafft.
Wären wir hier bei der Verleihung der Oscars, dann gäbe es für Hoghes Werk mehrere Nominierungen – für Darstellerinnen und Darsteller, für Licht und Raum,
Musik und Choreographie, Kostüme und Requisiten –, dann würden mehrere Namen genannt werden. Seit 1992 arbeitet Raimund Hoghe mit dem bildenden Künstler
Luca Giacomo Schulte zusammen, der auch – inzwischen gar nicht mehr so selten – auf der Bühne präsent ist. Um Dinge zu verteilen, sie wieder einzusammeln,
den Boden zu fegen, um zu stehen. Zu tanzen. Seine Tänzerinnen und Tänzer begleiten Raimund Hoghe über Jahre. Er widmet ihnen Stücke. Songs for Takashi (2015),
Musiques et Mots pour Emmanuel (2016), Canzone per Ornella (2018).
Der Tanzpreis 2020 ehrt einen Künstler, der die Präsenz des Abweichenden feiert.
Wer ein Stück von Raimund Hoghe besucht, ist vor Zumutungen der Konfektion sicher. Vor konfektionierten Körpern, konfektionierten Bewegungen, Dramaturgien,
Musiken, Settings – konfektionierten Formen. Wen interessieren die schon? Wichtig ist der Blick, der den Dingen Form verleiht, Schönheit aufscheinen lässt.
Dass wir Körper anders lesen, als wir es gewohnt sind. „Die Bilder bleiben. Der Atem, der den Körper verändert. Die Hände, die sich öffnen vor dem Körper“,
notiert Hoghe zu Sankai Juku.
Der spanische Modeschöpfer Balenciaga mochte die Mode seines Kollegen Dior nicht. Der New Look mit seinen weiten Röcken, schmaler Taille und kleinen Jacken stand
kaum jemanden, meinte er, man müsse dafür extrem dünn sein, und das interessierte Balenciaga nicht. In seinem Archiv fand man eine Schneiderpuppe mit einem Buckel –
es ging ihm beim Entwerfen um die Haltung, die ein Kleidungsstück seiner Trägerin verleiht. Der Entwurf sollte nichts verdecken, nichts überspielen, nicht
schmeicheln. Er soll Haltung verleihen. Das kann die Haltung des Körpers sein, die Einstellung zur Welt, die Grundlage, die Denken und Handeln leitet. Bei Raimund
Hoghe gehen Ethik und ästhetik in höchstem Maße zusammen. Er bricht in seinen Inszenierungen Idealbilder, indem er die Fallhöhen zwischen zugeschriebenen Merkmalen
und tatsächlichem Repräsentanten, zwischen Sehnsüchten und Realität, deutlich macht. Was Raimund Hoghe auf der Bühne tut und wie er es macht, das ist untrennbar
mit seinem Körper verbunden. Wo andere Künstler*innen am Körper zeigen, wie dieser vom Durchschlag psychischer und gesellschaftlich-sozialer Verhältnisse
verformt wird, da spannt Hoghe mit seinen Aktionen den individuellen Körper in eine strenge ästhetische Form. Oft genügen ihm ein, zwei Gesten oder kleine
Bewegungen, die er ruhig und klar wiederholt, bis ein Spannungsbogen zu Ende ist. Und ein neuer beginnt.
Der Tanzpreis 2020 ehrt einen Künstler, dessen Inszenierungen des Körpers sich mit einer dezidierten Haltung zur Welt verbinden.
Ein Künstler, der den Traum nährt und die Sehnsucht nach einem anderen Leben wachhält. Im Vorwort zu seiner Sammlung von Zeit-Porträts schreibt er: „Die Menschen stehen für keine Gruppe, sondern für sich. (...) Die Grenzen verschwimmen. Unterschiedliche Lebensbereiche und Welten verbinden sich. Auf einmal scheinen sie gar nicht mehr so weit voneinander entfernt (...)“. Träume haben. Normierungen unterlaufen. Grenzen überwinden. „Diese Sehnsucht zu leben.“ Für sich. Aber nicht allein. Denn – so der Vers von Rose Ausländer:
„Vergesset nicht
Freunde
wir reisen gemeinsam“.
Der Tanzpreis 2020 ehrt einen Künstler, den ich verehre.
©Katja Schneider
Festschrift des Dachverbands Tanz Deutschland e. V., 2020