"Raimund Hoghe – Tänzer des Jahres 2008"
Seine Stücke erzählen vom Träumen und von der gesellschaftlichen Wirklichkeit,
an der die Träume zerschellen können. Die Auszeichnung zum Tänzer des Jahres trifft mit Raimund Hoghe
einen außergewöhnlichen Künstler.
Dr. Gerald Siegmund
Goethe-Institut e. V., Online-Redaktion , 2008
Das hätte er sich wohl selbst nicht träumen lassen, obwohl seine Stücke immer auch vom Träumen erzählen.
Und von der gesellschaftlichen Wirklichkeit, an der die Träume der Menschen zu zerschellen drohen.
Der Tänzer und Choreograf Raimund Hoghe ist in der Kritikerumfrage der Fachzeitschrift ballettanz zum Tänzer
des Jahres 2008 gekürt worden, und das, obwohl der Tänzer mit dem Buckel so gar nicht in unser Bild von einem
Tänzer passen will. Mit seinem Körper, der nicht den traditionellen Vorstellungen von Schönheit entspricht,
zeigt sich Hoghe auf der Bühne und fordert damit unseren Blick auf die Norm heraus. Buckeln war noch nie seine
Sache. Denn mit der Frage, wer sich auf der Bühne zeigen darf, ist die Frage nach der gesellschaftlichen
Repräsentation von anderen Körpern und anderem Leben eng verknüpft. Diese Frage hat in Deutschland nicht nur
eine grausige Vergangenheit. Sie stellt sich anbetracht biomedizinischer Entwicklungen und allgegenwärtig gewordener
werbeträchtiger Idealkörper heute sogar wieder dringlicher denn je.
Eine deutsche Geschichte
Durch seine journalistische Tätigkeit lernte Raimund Hoghe Ende der 1970er-Jahre Pina Bausch kennen,
deren Blick und Neugier auf Menschen er teilte. So wurde er ihr Dramaturg, bis der gebürtige Wuppertaler
1989 Bauschs Tanztheater wieder verließ. In den darauf folgenden Jahren choreografierte er Stücke für verschiedene
Tänze und Schauspieler, bevor er 1994 sein erstes eigenes Solo Meinwärts realisierte, dem er die Biografie
des von den Nationalsozialisten ermordeten Tenors Joseph Schmidt zugrunde legte. In Chambre séparée (1997)
thematisierte er seine Kindheit im Deutschland der Wirtschaftswunderzeit, das die braunen Schatten der Vergangenheit
noch längst nicht abgestreift hat. In Another Dream (2000) schließlich dreht sich alles um den Aufbruch
der sechziger Jahre. Die deutsche Vergangenheit lässt ihn auch in seinen jüngsten Produktionen nicht los.
So ist im zweiten Akt seiner Boléro Variations aus dem Jahr 2007 die Stimme von Anita Lasker-Walfisch
zu hören, einer Überlebenden aus Auschwitz, die von ihren Leiden und Privilegien als Mitglied des KZ-Orchesters erzählt.
Mit nackten Oberkörpern beugen sich die knienden Tänzer mit weit nach vorne gestreckten Armen dazu zum Boden.
Sehnsuchtsräume
Hoghes Thema ist die Zeit selbst, die vergeht, und die Erinnerung an Verdrängtes, Ausgegrenztes und an andere
Formen des Zusammenlebens und der Sexualität, die im Bühnenraum zurückkehren und sich artikulieren dürfen.
Seine Tänzer erscheinen wie in Swan Lake, 4 Acts (2005) als feingliedrige Gespenster, die aus der Phantasie
des träumenden Choreografen entsprungen sind. Mit ihren rituell anmutenden Aktionen und ihren exakten Bewegungen
aus vergangenen Schwanensee-Choreografien, in denen die Tänzer und die Tänzerin Ornella Balestra selbst einmal
getanzt hatten, prägen sie sich nachhaltig ins Gedächtnis der Zuschauer ein. Hoghes Bühnen, die er mit Objekten
wie Tüchern, Teelichtern, Sand oder Schalen immer wieder geometrisch gliedert, sind Sehnsuchtsräume, die wesentlich
von seiner sorgfältig und sachkundig ausgewählten, immer genau auf das Thema des Stücks bezogenen Musik getragen werden.
Ein anderes Leben
Die Spielzeit 2007/2008 war ein produktives Jahr für Raimund Hoghe, in der er gleich mit drei neuen Stücken
aufwartete. In Seoul, Korea, entwickelte er 36, Avenue Georges Mandel über die Operndiva Maria Callas,
deren letzte Wohnadresse dem Stück den Namen gab. Kurz darauf folgte Boléro Variations, mit dem er im Februar
2008 auch zur Tanzplattform Deutschland nach Hannover eingeladen war. Inspiriert von Maurice Béjarts berühmter
Interpretation des Boléro greift Hoghe das Drehmoment des Tanzes auf und entwickelt daraus ebenso klare wie
verspielte Bewegungen für einzelne Körperteile. L’Après-midi schließlich orientiert sich an Waslaw Nijinskys
erster Choreografie aus dem Jahr 1912 zur Musik von Claude Debussy und greift dessen reliefartige, zweidimensionale
Bewegungen auf, die der Tänzer Emmanuel Eggermont als Faunfigur mit abgewinkelten Handgelenken und Füßen messerscharf
in den Raum stellt. Es sind die Posen eines Verführers, die Hoghe aus der Geschichte aufgreift, um sie zu analysieren
und neu zu betrachten. Das Thema der Sexualität, das bei der Uraufführung einen Skandal auslöste, ist dabei mehr als
eine Reminiszenz. Was sich schon in seinem furiosen Duett mit dem Tänzer Lorenzo De Brabandere, Sacre –
The Rite of Spring (2004), deutlich zeigte, setzt sich in L’Après-midi fort. Der Zuschauer kann die
Beziehung zwischen den beiden Männern auf der Bühne auch als schwule Beziehung lesen, ohne es zu müssen.
Jenseits von Anzüglichkeit oder inszenatorischer Drastik eröffnen sich den Zuschauern dabei Möglichkeiten, die
Welt ein wenig anders zu sehen und sie dadurch reicher, vielfältiger und menschlicher zu gestalten.
©Dr. Gerald Siegmund