"Laudatio auf Raimund Hoghe"
Gerald Siegmund
Ich erinnere mich. Ich erinnere mich an zwei Szenen aus Raimund Hoghes Stück Sarah, Vincent et moi, das er 2002 für die kanadische Tänzerin Sarah Chase,
den französischen Tänzer Vincent Dunoyer und für sich selbst geschaffen hat. Hoghe holte eine Tüte voller Sand aus seinem Versteck hinter einem der
schwarzen Vorhänge, die die Bühne seitlich begrenzten. Er nahm eine Handvoll Sand und ließ ihn durch seine Finger rieseln, sodass der Sand auf dem Boden kleine
Kreise bildete. Zweimal wechselte er dabei seine Position, um den Vorgang zu wiederholen, so dass er zum Schluss insgesamt drei Kreise, drei kleine Sandhügel
ausgestreut hatte. Neben sie legte er mit Bedacht je einen Miniatur-Kronleuchter und eine kleine Kerze, die den Sand wie den Schatten der Leuchter aussehen ließ.
Mit ein paar Handgriffen und Objekten hatte Hoghe die Bühne in einen Ballsaal verwandelt.
Vergessen, sagte Raimund Hoghe, das sei eine sehr private Idee. Vergessen, wie macht man das? lautet der Titel einer Reportage über seine Begegnungen in einem
jüdischen Altenheim in Düsseldorf. Erinnerungen wachhalten, indem man sie mit der Gegenwart verbindet, das ist das künstlerische Programm seiner frühen
Stücke der 1990er Jahre. Er bringt in Meinwärts (1994) den im Nationalsozialismus verfolgten Tenor Joseph Schmidt zusammen mit Erinnerungen an seine eigene
Kindheit – „Er sei zu klein für sein Alter, sagen die Leute“ –, schattiert ihn mit Verbalaggressionen gegenüber an Aids Erkrankten. Raimund Hoghe entwirft in seinen
Stücken Mentalitäts- und Zeitgeschichten. Erinnern als Kompetenz. In zeit-räumlicher Aufeinanderblendung verbindet er individuelle und kollektive Erinnerungen mit
aktuellen Beobachtungen. Er selbst tritt als Gastgeber in Aktion. „In einer Arbeit, die sich mit Vergangenheit beschäftigt, gehen neue Türen auf“, sagte er.
Am Ende des Stücks kehrte der Tänzer Vincent Dunoyer an diese drei Orte zurück. Er suchte sie wieder auf, obwohl sie schon längst nicht mehr existierten. Wo einst der
Ballsaal gewesen war, waren inzwischen andere Bilder erschienen, die das Licht und den Schatten überdeckten. Die Aktionen der drei Tänzerinnen und Tänzer haben die
Bühne verwandelt, haben dort, wo einst getanzt wurde, andere Orte und Bilder entstehen lassen. Vincent Dunoyer suchte die Orte vom Beginn des Stücks wieder auf und
erinnerte uns damit an das, was am Anfang geschah. Drei Fotos legte er auf genau jene Stellen, an denen vorher die Kronleuchter Schatten geworfen hatten und bedeckte
sie eine nach der anderen mit Sand, bis die Fotos verschwunden waren. Kaum war er damit fertig, beugte er sich über die kleinen Sandkegel und holte die Bilder wieder
hervor. Vorsichtig löste er die Fotos aus dem Sand, als wolle er sie dem Vergessen entreißen. Wo sie gerade noch gelegen hatten und gut aufgehoben waren, befanden sich
nun drei Leerstellen: drei leere rechteckige Flächen im Sand. Da tauchten auch Sarah Chase und Raimund Hoghe wieder auf und streuten Sand auf die leeren Flächen,
bis die Zeit die offenen Wunden anscheinend geheilt und die Bilder endgültig der Vergessenheit anheimgefallen waren. Etwas ähnliches können wir auch in Lettere Amorose
beobachten. Die kleinen Paravants, die vor dem Wind schützen sollen, weichen kleinen Häusern aus Holzstäbchen., an deren Stelle am Ende schließlich die Textblätter
abgelegt werden.
Die Szenen, denen ich damals in den Studios des Kaaitheaters in Brüssel beiwohnen durfte und die ich an anderer Stelle schon mehrmals beschrieben habe, sind für
mich emblematisch geworden für die Themen und Formen von Raimund Hoghe, zu dessen Ehren wir heute hier zusammengekommen sind. Seine Arbeiten thematisieren das
Vergehen der Zeit, wie es uns der rieselnde Sand zugleich bildlich und doch ganz konkret vor Augen führt. Sie erzählen von Erinnerungen wie die Fotos, die eine
längst vergangene Zeit festhalten, bevor sie selbst in Vergessenheit geraten. Sie besitzen die Leichtigkeit eines Kinderspiels, mit der aus einfachen Plastiklüstern
plötzlich eine ganze Welt, ein Ballsaal, entstehen kann. Sie zeigen die Verwandlung der Dinge und leben von den zärtlichen und oft auch humorvollen Begegnungen
mit seinen Bühnenpartnern und –partnerinnen. Die Konkretheit der Vorgänge und die präzisen Abläufe weisen ihn als wahrhaften Theatermann aus. Seine
minimalistischen Aktionen in den großen, fast leeren Bühnenräumen, ermöglichen es, dass die Dinge im wahrsten Sinne des Wortes erscheinen und wahrgenommen werden
können, bevor sie von der Leere wieder verschluckt werden und anderes an ihre Stelle tritt. Der amerikanisch-britische Dichter T. S. Eliot hat in einem Vers seines
berühmten Gedichts The Waste Land die Aufbrüche der Natur im Frühling als „mixing memory and desire“ beschrieben, als das Durchdringen von Erinnerung und
Begehren.
Eliots Vers ist für mich immer auch eine Beschreibung für die Aufbrüche von Raimunds Arbeiten gewesen: mit jedem Stück immer wieder gleich und doch anders.
Sie alle zeichnen sich durch eine wiedererkennbare Formensprache aus, die unverkennbar jene von Raimund Hoghe ist. Und doch erzählen seine Stücke immer wieder
anders von einem Begehren nach Berührung, Anerkennung und, vielleicht sogar nach einem neuen, besseren und menschlicheren Leben. Wenn sie überhaupt von etwas handeln,
dann handeln die Stücke vom Träumen. Und ganz oft auch von der gesellschaftlichen Wirklichkeit, an der die Träume der Menschen zu zerschellen drohen.
Wir erinnern uns. An den Anfang der Vorstellung, die wir gerade gesehen haben und die selbst eine Erinnerung ist an das Stück Lettere Amorose aus dem Jahr 1999.
Wie uns der Brief der beiden afrikanischen Jugendlichen an die „Hohen Herren von Europa“ drastisch vor Augen geführt hat, ist das Stück heute in unserem aktuellen
gesellschaftspolitischen Klima aktueller denn je. Wir erinnern uns daran, wie Raimund Hoghe zu Beginn und am Ende des Stücks in eine graue Decke gehüllt mit dem
Rücken zum Publikum auf der nahezu leeren Bühne liegt. Es sind solche scheinbar einfachen Bilder, die beinahe unwillkürlich komplexe Assoziationen auslösen.
Seine Bilder tauchen ein ins persönliche und kulturelle Gedächtnis, in dem Hoghes schemenhafte Formen abgelegt sind wie Pathosformeln, von denen der Kunsthistoriker
Aby Warburg einst sprach. Damit meinte er wiedererkennbare Körperhaltungen von Figuren auf Gemälden oder in Skulpturen, die emotionale Zustände über alle Zeiten
hinweg transportieren. Wie Hoghe so da liegt denken wir an den kleinen toten Jungen in der roten Jacke, Alan Kurdi, der an der türkischen Mittelmeerküste angespült
wurde und dessen Bild um die Welt ging. Anschließend zieht Hoghe das schöne goldene Tuch ein, das den Bühnenboden in der Mitte geteilt hatte. Das Licht der
Scheinwerfer fängt sich im Stoff und fängt an, mit seinem Material zu spielen. Im Glitzern und Schimmern des goldenen Tuches fängt sich unser Blick. Er lässt
sich gefangen nehmen vom funkelnden Lichtspiel, das uns aber auch etwas vorgaukelt: es spielt den schönen Schein der Kunst, Hoghes Kunst, voll und ganz aus.
Der ästhetische Schein ist in Raimund Hoghes Arbeiten auch als Vor-Schein und Versprechen zu verstehen. Er ist nur ein Spiel, aber ein ernstes Spiel mit der
Verheißung auf ein anderes Leben. Die leere Bühne spielt dabei stets eine zentrale Rolle. Führt sie uns doch die Abwesenheit vor Augen, die den Vorgang des
Erscheinens selbst, also das Erscheinen des Erscheinens, für uns allererst erfahrbar macht.
Der Buckel
„Den Körper in den Kampf werfen“ – mit diesem Zitat des schwulen italienischen Filmregisseurs und Autors Pier Paolo Pasolini hat Raimund Hoghe vor nunmehr 25 Jahren
seine Arbeit auf den Tanzbühnen eröffnet. Er hat seine Motivation, Stücke und gerade Tanzstücke zu machen, stets mit Pasolinis Kampfansage verbunden, die, und dies
ist vielleicht ebenso wichtig, auch ein utopisches Moment enthält. Ist sie doch auch Ausdruck einer Sehnsucht nach einem anderen Leben, das in der Akzeptanz von
menschlichem Begehren und der Liebe gründet. Pasolinis Zeile wurde für Hoghe, wie er selbst schreibt, „zum Anstoß, den eigenen Körper auf der Bühne zu zeigen“.
Keine andere Kunstform stellt bis heute wohl derartige Ansprüche an die körperlichen und zum Teil auch biologischen Voraussetzungen seiner Protagonistinnen und
Protagonisten wie der Tanz. Vom klassischen Schönheits- und Schlankheitsideal des Balletts bis hin zu den enormen athletischen Fähigkeiten, die der
zeitgenössische Tanz oft genug seinen Tänzerinnen und Tänzern abverlangt, lebte der Tanz lange Zeit von einer normierten Körperlichkeit. Mit seinem Körper,
der aufgrund seines Buckels nicht den traditionellen Vorstellungen von Schönheit entspricht, zeigt sich Raimund Hoghe auf der Bühne und fordert damit unseren
Blick auf die gesellschaftliche wie auf die tanzästhetische Norm heraus. Buckeln, wenn Sie mir die Metapher erlauben, war noch nie seine Sache. „Diesen Körper“,
schreibt Raimund Hoghe in einem seiner Texte, „gibt es auch. Es gibt andere Körper als die bekannten Tänzerkörper.“ Denn mit der Frage, wer sich auf der Bühne
zeigen darf, ist die Frage nach der gesellschaftlichen Repräsentation von anderen Körpern und anderem Leben eng verknüpft. Diese Frage hat in Deutschland nicht
nur eine grausige Vergangenheit. Sie stellt sich anbetracht biomedizinischer Entwicklungen und allgegenwärtig gewordener werbeträchtiger Idealkörper heute
sogar wieder dringlicher denn je. Welches Leben erachten wir angesichts von Pränataldiagnostik und Genscheren als lebenswert? Gerade hat der Deutsche Ethikrat
Genmanipulation nicht mehr prinzipiell abgelehnt. Die Bühne ist ein Ort des Zeigens. „Deshalb ist es wichtig“, so Hoghe, „dafür zu kämpfen, dass andere
Körper sichtbar bleiben – auf der Bühne und im Alltag.“
Eine deutsche Geschichte
Raimund Hoghe wurde 1949 in Wuppertal geboren. Durch seine journalistische Tätigkeit lernte er Ende der 1970er Jahre Pina Bausch kennen, deren Blick und
Neugier auf Menschen er teilte. So wurde er ihr Dramaturg, hörte aber während seiner Zeit beim Wuppertaler Tanztheater bis 1989 nicht auf zu schreiben. So
veröffentlichte er Bücher über die Arbeit mit Pina Bausch und schrieb einfühlsame Porträts von Tänzern und Menschen, deren Leben nicht in den gewohnten
Bahnen der alten Bundesrepublik verlief. Seine Texte werden im September in einem Sammelband im Verlag Theater der Zeit neu herauskommen. In den darauf
folgenden Jahren choreographierte er Stücke für verschiedene Tänzer und Schauspieler, bevor er 1994 sein erstes eigenes Solo Meinwärts realisierte, dem
er die Biographie des von den Nationalsozialisten ermordeten Tenors Joseph Schmidt zugrunde legte. In Chambre séparée (1997) thematisierte er seine
Kindheit im Deutschland der Wirtschaftswunderzeit, das die braunen Schatten der Vergangenheit noch längst nicht abgestreift hat. In Another Dream (2000)
schließlich dreht sich alles um den Aufbruch der sechziger Jahre. Die deutsche Vergangenheit lässt ihn auch in späteren Produktionen nicht los. So ist im
zweiten Akt seiner Boléro Variations aus dem Jahr 2007 die Stimme von Anita Lasker-Walfisch zu hören, einer überlebenden aus Auschwitz, die von ihren
Leiden und Privilegien als Mitglied des KZ-Orchesters erzählt. Doch Hoghes Auseinandersetzung mit Deutschland und seiner Geschichte, seinem seit der
sogenannten Flüchtlingskrise 2015 wieder verstärkt sicht- und spürbaren Unbehagen in Anbetracht alles Fremden, Abweichenden, die seine frühen Stücke
prägte, ist längst in den Hintergrund gerückt und hat einer Auseinandersetzung mit anderen Kulturen Platz gemacht.
In der Differenz
Vor dem Hintergrund der Begegnung mit Tänzerinnen und Tänzern aus anderen Kulturkreisen führt uns Hoghe immer wieder vor Augen, was es bedeutet,
Differenzen ernst zu nehmen und sogar was es bedeutet, mit und in der Differenz zu leben. Hoghe etabliert einen Kosmos, der aus lauter Unterschieden
besteht, die er allein durch die Präsenz seines Körpers zugleich sichtbar macht und mit einer Geste der zärtlichen Berührung aufhebt. Dazu schreitet
Hoghe die Bühnen, Räume und Sets, auf die sein langjähriger künstlerischer Partner, der bildende Künstler Luca Giacomo Schulte, ein waches Auge hält,
mit geometrischer Klarheit und Präzision regelrecht ab. Alt und jung, wie in Young People, Old Voices oder Momentos of Young People , groß und klein,
wie in seinem Dialog mit der schwedischen Schauspielerin Charlotte Engelkes, Mann und Frau in Canzone per Ornella für seine langjährige Protagonisten,
der Ballerina Ornella Balestra, Tänzer und Nichttänzer in Tanzgeschichten mit Lorenzo de Brabandere, schwarz und weiß in Sans-titre mit dem kongolesischen
Tänzer Faustin Linyekula, Ost und West in seinen beiden Duetten mit dem japanischen Tänzer Takashi Ueno (Pas de Deux und Songs for Takashi ) - Raimund Hoghe
schreitet im Bühnenraum immer auch die Differenzen zwischen Körpern und Kulturen ab mit dem Ziel, sie einfach sein zu lassen. „Sein lassen“ im doppelten
Sinn des Wortes einmal als unterlassen und vor allem als zulassen: Unterschiede dürfen sein, gerade weil Hoghe immer wieder zeigt, dass sie nichts
bedeuten, „egal“ im Sinne von gleich-wertig sind. Er bewegt sich in der Differenz indifferent zu wertenden Zuschreibungen, die das eine oder das andere
besser, schlechter erscheinen ließen. Seine Arbeiten haben dadurch stets etwas zutiefst Menschliches. Sie legen Zeugnis davon ab, was es heißt, sich auf
Differenzen einzulassen und in der Differenz zu leben ohne sie zu leugnen oder, was genauso unproduktiv wäre, aus ihr ein unüberwindbares Hindernis für
Verständigung und das gesellschaftliche Zusammenleben zu machen.
Sehnsuchtsräume
Daher sind Raimund Hoghes Bühnenräume veritable Orte der Begegnung und der Annäherung an das vermeintlich Fremde, Andere, das heute viele Gesichter hat.
Es sind zudem auch Orte der Begegnung mit fremden Freunden, denen er mit ausgesuchter Höflichkeit und zugeneigter Distanz die Bühne bereitet. Gastgeber
und Zeremonienmeister zugleich, lädt er sich Freunde ein, um mit ihnen zu spielen. So erinnern viele seiner Aktionen und Vorgänge wie das Spiel mit den
Kronleuchtern auf der Bühne auch an Kinderspiele, die Hoghe an den Stücken der japanischen Butoh-Gruppe Sankei Jukai so sehr schätzt und die es ihm erlauben,
lustvoll Möglichkeiten des Verhaltens und der Interaktion auszuprobieren. Seine Stücke - und es sind seit Meinwärts 1994 wenn ich richtig gezählt habe ohne
seine Arbeiten für andere 25 - zeichnen sich durch eine zeremoniell anmutende Langsamkeit aus. Sie sind geprägt von Wiederholungen und dem Ausführen einfacher
Aktionen, deren Verrichtung Zeit braucht, die Hoghe sich ohne Rücksicht auf dramaturgische Spannungsbögen oder Effekte einfach nimmt. Wer eine Aufführung
von Raimund Hoghe besucht, muss Zeit mitbringen. Aber die Zuschauerinnen und Zuschauer bekommen auch Zeit geschenkt. Zeit zum Verweilen, zum Hinsehen, Zeit,
die Dinge auf sich zukommen und sich berühren zu lassen. Dabei sind seine Stücke durchaus nicht immer lang. Seine Beschäftigungen mit der Tanzmoderne wie
in seinem furiosen Duett mit dem Tänzer Lorenzo De Brabandere Sacre - The Rite of Spring (2004) oder dem Solo für Emmanuel Eggermont L’Après-midi (2008),
das sich an Waslaw Nijinskys erster Choreographie aus dem Jahr 1912 zur Musik von Claude Debussy orientiert, folgen durchaus der Intensität der Musik.
Raimund Hoghes Zeit ist nicht die äußere messbare Zeit, weshalb es auch ziemlich unerheblich ist, ob die Stücke lang oder kurz sind. Seine Zeit ist die
innere subjektive Zeit, die eine eigene Ausdehnung und Dauer hat und in der verschiedenen Dinge aus unterschiedlichen Zeitschichten nebeneinander existieren können.
Hoghes Thema ist die Zeit selbst, die vergeht, und die Erinnerung an Verdrängtes, Ausgegrenztes wie andere Formen des Zusammenlebens oder andere Formen von
Sexualität zulässt. In solchen Erinnerungsräumen erscheinen seine Tänzer wie in Swan Lake, 4 Acts (2005) manchmal auch als feingliedrige Gespenster, die aus
der Phantasie des träumenden Choreographen entsprungen zu sein scheinen und aus alten Schwanensee-Choreographien zitieren. Raimund Hoghe gibt ihnen Raum. Er
macht ihnen Platz. Dabei formuliert Hoghe seine Erinnerungen auf eine Art, die geschichtliche Ereignisse durch den subjektiv und rein privaten Moment hindurch
aufruft. Zwischen Dingen, Worten und Liedern öffnen sich Freiräume für eigene Erinnerungen und affektive Momente.
Indem Hoghes Körper, der als Differential funktioniert, sich immer auch als Platzhalter, als Pathosformel eben, für die Erfahrungen anderer Menschen oder gar für
allgemein-gesellschaftliche Erfahrungen ins Spiel bringt, thematisiert Hoghe, der Theatermann, zugleich ein uraltes Prinzip des Theaters. Egal ob Schauspieler,
Tänzer oder Performer – sie alle führen auf der Bühne eine Art von Verwandlung auf und vor. Manchmal machen sie sie sogar durch. Der Schauspieler schlüpft in die
Rolle, der Tänzer gibt sich einen imaginären Körper, der Performer erhebt sich durch Energie in einen anderen Zustand. Sie alle sind zugleich sie selbst und sind
doch für die Dauer der Vorstellung andere. Raimund Hoghe zeigt, wie er sich durch das Spiel mit Gegenständen und seinen Bühnenpartnern und –partnerinnen verwandelt.
Für das Stück 36, Avenue Georges Mandel , das er in Seoul, Korea entwickelte, verwandelt er sich in die Operndiva Maria Callas, deren letzte Wohnadresse dem Stück
den Namen gab. Für An Evening with Judy schlüpft er in die Rolle von Judy Garland. Sein Rollen-Spiel mit den überlebensgroßen, fast schon mythischen Diven des
Showgeschäfts sind jedoch keine Verkörperungen im emphatischen Sinne eines psychologischen Hineinversetzens in die Rolle der Callas oder der Garland. Vielmehr
stellt er ihnen, wie der von ihm verehrte Kazuo Ohno, der seinen Körper der legendären Tänzerin La Argentina lieh, seinen Körper zur Verfügung, durch den sie
hindurch als Abwesende zur Erscheinung kommen. Durch Gesten, Bewegungen und einzelne gezielt gesetzte Kostümteile evoziert er den fremden, weiblichen Körper,
ohne diesen besitzen zu wollen oder gar zu können. Obwohl sich Männliches und Weibliches in ihm berühren dürfen, bleibt sein Körper in der Differenz zum Körper der anderen.
Frankreich
Mit Ausnahme des Tanzhauses NRW und des Theaters im Pumpenhaus in Münster, wo seine Stücke auch heute noch zu sehen sind, zeigen kaum noch deutsche Veranstalter
seine Produktionen. Nachdem er 2008 in der Kritikerumfrage der Fachzeitschrift ballettanz , heute nur noch Tanz , zum Tänzer des Jahres gekürt wurde, sind seine Stücke
seither mehr oder weniger von den deutschen Bühnen verschwunden. Das ist im europäischen Ausland und vor allem in Frankreich anders. Wo die Deutschen, wie Hoghe oft
beklagt hat, nur seinen Buckel und damit einen Makel sehen, sehen die Franzosen in ihm einen „Ange inachevé“, einen „unvollendeten Engel“, wie das Buch der Schriftstellerin
Marie-Florence Ehret heißt, in dem sie Hoghes Stücke zum Anlass nimmt, eigene Erinnerungsarbeit an ihre Kindheit in Frankreich zu betreiben. Worte wie Schönheit,
Poesie oder Ästhetik gehen den Menschen in Frankreich nicht nur leichter über die Lippen. Sie verbinden damit auch etwas Selbstverständliches, Alltägliches; Kunst und
vor allem auch der Tanz spielen im Leben der Menschen, so will es von dieser Seite des Rheins zumindest oft scheinen, eine viel größere Rolle. Hoghes Stücke werden in
Frankreich als Kunst wahrgenommen. Damit stellte die französische Rezeption vor allem Hoghe Suche nach Form in den Vordergrund, die im Bereich des Tanzes vor allem eine
Suche ist nach dem was in Frankreich „le gestuelle“, das Gestische heißt: einer körperlichen Ausdrucksform, die auf ästhetische Weise kommuniziert, die im Spiel von
Zeigen und Verbergen auf der Bühne auf sich selbst aufmerksam macht. Indem das Gestische sich selbst ausstellt, trägt und transportiert es etwas auf andere - die
Zuschauer - zu: etwas, das in den Köpfen und Herzen der Zuschauer etwas aufschließt, „mixing memory and desire“ in der Imagination der Zuschauer. Das Festival d’Automne
in Paris, das Festival d’Avignon und das Festival Montpellier Danse, das seit Dialogue with Charlotte 1999 fast alle seine Stücke gezeigt hat und das ihn 2011 sogar
zum „artiste associé“ gemacht hat, gehören in Frankreich zu seinen Förderern.
Ich erinnere mich. Ich erinnere mich, lieber Raimund, an unsere erste Begegnung 1999 im „Théâtre Chai du Terral“ im Rahmen des Festivals Montpellier danse.
In dem düsteren und kühlen Theater, das auf dem Gelände einer alten Abtei mit einem riesigen Weinkeller und einem angeschlossenen englischen Garten liegt,
standest du mit Charlotte Engelkes in Dialogue with Charlotte auf der Bühne. Die kühle, schlanke, großgewachsene Charlotte, die ich bis dato nur aus den Stücken
des Regisseurs Michel Laub kannte, legte dich übers Knie, während Du mit Armen und Beinen gerudert bist als wolltest Du Schwimmen lernen. Dem sind zahlreiche
weitere Begegnungen quer durch Europa gefolgt, in Brüssel, in Madrid, in Brest, in Bern, in Wien, in Paris, in Berlin, in Hannover und immer wieder auch in Frankfurt.
Dafür danke ich Dir. Für die Erinnerungen und die geteilte Zeit im und außerhalb des Theaters. Ich wünsche Dir und uns auch über Deinen 70. Geburtstag hinaus noch
viele weitere Stücke über das was, es heißt, Mensch zu sein.
©Gerald Siegmund
Die Rede von Gerald Siegmund wurde am 18. Mai 2019 nach der Vorstellung „Lettere amorose, 1999 – 2019“ im tanzhaus nrw in Düsseldorf gehalten.