"Das Leben ist ein Walzer"
Michaela Preiner


Mit Wucht treibt der Pianist und Performer Guy Vandromme am Bösendorfer-Flügel den „La Valse“ von Maurice Ravel voran. Führt ihn von anfänglich lichten Höhen hin zu einem höllischen Gestampfe, welches infernalische Assoziationen zulässt. Während dessen liegt der Choreograf, Tänzer und Theaterschaffende Raimund Hoghe bäuchlings auf der Bühne und rührt sich nicht.
Eine bis zu den Knien aufgekrempelte, schwarze Hose und ein knallrotes Hemd verdeutlichen einen Farbcodex. Mit Rot assoziiert man ad hoc Leiden und Blut, mit Schwarz den Tod. Und so liegt Hoghe sinnbildlich für Millionen Gefallener des ersten Weltkrieges auf der Bühne des Akademietheaters. Im Rahmen von Impulstanz präsentierte er dort seine österreichische Erstaufführung von „La Valse“.
Die Interpretation dieses Bildes ist zulässig, wenn man die Geschichte von Ravels „La Valse“ kennt. Der Komponist begann mit dem Stück bereits im Jahr 1906 und vollendete es 1920, zwei Jahre nach Beendigung des großen Krieges. Kein Wunder, dass die Komposition, bei der am Ende kein walzerseliges Vergnügen mehr zu verspüren ist, direkt in Verbindung mit den Kriegsgräueln gebracht wird. Ravel diente als Lastwagenfahrer und wusste genau, dass Hunderttausende Menschen den Kriegsgeschehnissen hilflos ausgesetzt waren und daran starben.

Ein Abend voller Musik, Trauer und Schmerz

„La Valse“ – der Titel von Raimund Hoghes neuem Stück steht aber nicht nur für Ravels Tonschöpfung, vielmehr ist er programmatisch für die Produktion gewählt. Tatsächlich sind – bis auf ganz wenige Ausnahmen – an diesem Abend ausschließlich Walzer zu hören. Und viele, ja beinahe alle, verbindet der Autor, Tänzer und Choreograf Hoghe mit Wehmut, Schmerz und Trauer. Marion Ballester, Ji Hye Chung, Emmanuel Eggermont, Luca Giacomo Schulte, Takashi Ueno und Ornella Balestra werden dazu mit grauen Decken ausgestattet. Dieses Kostümattribut wird zum Sinnbild für die angesprochenen Emotionen, aber auch zum Sinnbild für den Tod schlechthin. über die Schulter geworfen oder darin eingehüllt, symbolisieren diese Decken den ersten Wärmeschutz nach der Errettung aus dem Meer. Sie stehen aber auch für die Trauer und jene Menschen, die nicht mehr unter uns sind. Abwesende, mit denen die noch Lebenden gerne tanzen würden.
In vielen Szenen, die Hoghe mit einem Walzer nach dem anderen aneinander reiht, steht das Ensemble, dem Publikum abgewandt, regungslos vor der schwarz verhängten, hinteren Bühnenwand. Alleine, zu zweit oder auch alle. Mehr Verweigerung am Leben und auch am Bühnengeschehen teilzunehmen – außer vielleicht eine komplette Abwesenheit – gibt es nicht.
Die Musik verharrt dabei ganz und gar nicht in einem picksüßen Wiener-Walzer-Zuckerschaum-Sound. Zu hören sind unter anderen die großartige Josephine Baker, Juliette Greco, Patti Page, aber auch historische Aufnahmen aus dem Zigeunerbaron, ein Walzerpotpourri, in dem der Rosenkavalier hervorsticht und, und, und. Noch nie hat man an einem einzigen Abend eine derart große Bandbreite dieses musikalischen Genres präsentiert bekommen. Es ist aber nicht die Musik alleine, die den Abend hoch emotional auflädt.

Interpretationsfeuerwerke am laufenden Band

Trotz oder vielleicht gerade aufgrund seiner durchgehend langsamen Choreografien und mit nur wenigen Requisiten erschuf Hoghe ein gewaltiges Arsenal an Bildmunition, die Interpretationsfeuerwerke in den Köpfen seines Publikums auslösen kann. Dabei verweist er auf ganz persönliche Erlebnisse genauso wie auf aktuelle, zeitgenössische Phänomene. Das Ertrinken von zehntausenden Flüchtlingen im Mittelmeer veranschaulicht er mit einer nassen Bühne, einem kleinen, Handteller großen Boot und sich selbst. Am Bauch liegend und mit den Armen Schwimmbewegungen vollführend, dauert Ravels „Valse“ – dieses Mal in der symphonischen Fassung – eine gefühlte Ewigkeit. Die abermalige Verwendung von Ravels Musik macht im Hinblick auf die allererste Szene mit ihrem Verweis auf den Ersten Weltkrieg Sinn. Nun begleitet Hoghe damit das aktuelle Sterben von Flüchtlingen in großer Zahl im Mittelmeer. Auch wenn nur er alleine auf der Bühne gegen die Gewalt des Meeres anschwimmt.
Mehrfach ist bei verschiedenen Szenenwechsel der Ruf eines Muezzins, begleitet von Gewehrsalven und dem Grollen von großen Waffen, zu vernehmen. Auch das, was derzeit in Syrien passiert, was den Mittleren Osten erschüttert, lässt Hoghe bis auf die Theaterbühne tönen.
Diese dramaturgischen Ideen machen deutlich, warum dieser Abend nichts mit einem fröhlichen Dreivierteltakt-Gedrehe zu tun haben kann. Krieg und der Verlust von Menschen kann nicht schön getanzt werden. Hoghe, der selbst häufig auf der Bühne agiert, tut dies jeweils mit größter Bedachtsamkeit. Ob er sich um die eigene Achse mit verbundenen Augen dreht, einen zu Füsilierenden darstellt, ob er eine seiner Partnerinnen mit einem Rosenschal bezirzt, ob er den einen oder die andere bei ihren Soloauftritten unterstützt – immer tut er dies ohne eine einzige rasche Bewegung. Einzig in jener Szene läuft er kopflos von links nach rechts, vor und zurück über die Bühne, in welchem in einem aufgenommenen Gespräch eine Jüdin über ihr Schicksal nach der Auflösung des KZs berichtet, in dem sie als Deutsche gefangen gehalten wurde. Zurück nach Deutschland war für sie keine Option, die Ausreise nach England musste erst erkämpft werden.

Emotionen, die Geschichten kreieren

Wunderbar ist, dass Raimund Hoghe die Persönlichkeit aller Tanzenden in den Choreografien spürbar werden lässt. Ji Hye Chung und Takashi Uena dürfen dabei auf ihre kulturellen, asiatischen Wurzeln zurückgreifen, Emmanuel Eggermont besticht durch minimalistische, aber höchst ausdrucksstarke Bewegungen. Ornella Balestra wiederum, als Gast im Ensemble, ist von einer Trauer erfasst, die zu Herzen geht. Ein gemeinsamer Auftritt von ihr mit Hoghe, zu einem Song von Josephine Baker, gehört zum Emotionalsten, was der Abend zu bieten hat. Dabei geschieht wenig Tänzerisches. Aber die Hilfestellung, die Hoghe mit Gesten der Tänzerin anbietet, die Blicke, die in die Vergangenheit weisen und die Gesten, die deutlich machen, dass Verlorenes nicht wiederkommt, berühren zutiefst. Es sind Szenen wie diese, die den Zauber von Hoghes Choreografie auf den Punkt bringen.
Trotz aller Interpretationsmöglichkeiten geht es letztlich nicht darum, dem Publikum Geschichten vorzutanzen. Es geht darum, ihm Emotionen anzubieten, mit welchen es selbst Geschichten kreieren kann. Ein großer und berührender Abend.

©Michaela Preiner
European Cultural News, 2017