"Ich erinnere mich"
Homosexualität und Aids. Raimund Hoghe gedenkt in seinem jüngsten Stück nicht nur Dominique Bagouet.
Katja Schneider
"tanz" Dezember 2010


Purcells Trauermarsch braust auf. In elegantem Schwarz betritt einer nach dem anderen die Bühne und geht auf den Hintergrund zu. Da stehen sie dann in einer Reihe, alle neun, mit dem Rücken zu uns, Raimund Hoghe hält die Mitte. Eine dunkle Phalanx vor der Schwärze des Hintergrunds, Besucher einer Beerdigung vielleicht, die Abschied nehmen, innehalten, die letzte Ehre erweisen. Die Frauen und Männer wippen zart auf den Absätzen. Wenn sie das Sakko ausziehen, leuchten Shirts und Hemden. Lachsfarben, in tiefem Rot, im kräftigen Gelb, silbrig, meeresblau. Bei aller Todesnähe war Hoghes Welt noch nie so bunt. Die Tänzerinnen und Tänzer fassen sich an den Händen, sie verharren, als stünden sie vor dem Abgrund, als trügen sie gemeinsam Verlust und Trauer, dann drehen sie sich zu uns um, verfolgen die Spuren der Erinnerung und öffnen die Räume des Vergessens.
"Wenn ich sterbe, laßt den Balkon geöffnet" heißt es in einem Gedicht von Federico García Lorca, der gerade 38 Jahre alt war, als er 1936 ermordet wurde. Schon einmal hat Hoghe diese Zeilen zitiert, in seinem Gedenken an die mit 24 Jahren an Krebs gestorbenen Bausch-Tänzerin Isabel Ribas Serra. "Si je meurs laissez le balcon ouvert", sein jüngstes Stück, kreist auch um einen, der zu früh gehen musste, nämlich um den französischen Tänzer und Choreographen Dominique Bagouet, der 1992, 41-jährig, an den Folgen von Aids gestorben ist. In seiner Zeit als Journalist für die "Zeit" und als Autor von Lebensbildern in den 1980er Jahren hat Hoghe viel über Todesnähe geschrieben, auch über den Photographen und Schriftsteller Hervé Guibert, gestorben 1991 mit Mitte Dreißig. Auch er wird im Stück genannt, da ihn mit Bagouet Homosexualität, Künstlerexistenz und die Krankheit, die zum Tod führte, verbindet. Der Tod tanzt mit. Béjart, Cunningham, Bausch, Michael Jackson, diese Namen fallen im Verlauf des fast dreistündigen Stücks. Das hat viel von einem Requiem, doch feiert "Wenn ich sterbe lasst den Balkon geöffnet" auch die Kunst und die Erinnerung.
Den Fluchtpunkt nimmt Bagouet ein. Nicht nur, weil Hoghes jüngster Coup im vergangenen Sommer in Montpellier uraufgeführt und ihm von Festivaldirektor Jean-Paul Montanari als Auftragswerk vergeben wurde, um dem nach wie vor allgegenwärtigen Begründer von Montpellier Danse Reverenz zu erweisen. Sondern vor allem, weil Bagouet wie etwa auch die Callas in "36, Avenue Georges Mandel" den Düsseldorfer Choreographen zu einer Begegnung auf Augenhöhe inspiriert hat. "Was Bagouet selbst gesagt hat, das hat mich interessiert, nicht, was andere über ihn berichten", erzählt Hoghe – und webt daraus ein Netz aus Anspielungen, Verweisen, Zitaten, Beziehungen. Das Bagouet-Stück sei keine Rekonstruktion, sondern eine Erinnerung an das, was seit den 1980er Jahren verlorgengegangen ist im zeitgenössischen Tanz. "Ich sehe in Bagouets Werken eine große Zärtlichkeit, sehr delikate Bewegungen", sagt Hoghe, "anders als im deutschen Tanztheater der Zeit gibt es die Mann-Frau-Thematik nicht, das lag mir nahe."
Als Hoghe vor ein paar Jahren bei einer Filmnacht in Montpellier Choreographien des Franzosen sah, muss er durchaus eine Verwandtschaft gespürt haben, die trotz des raffinierten, komplexen, sehr schnellen, "barocken" Stils Bagouets vorhanden war: "Es gibt Stücke wie 'Mes Amis', in denen es 10 Minuten dauert, bis der Schauspieler sich bewegt, oder 'F. et Stein', wo man zunächst fast gar nichts sieht, weil es sehr dunkel ist, und erst allmählich erkennt man eine verhüllte Gestalt, die ganz langsam mit ihren Stoffen umgeht und sie sich vom Leibe reißt."
Über Videos hat er sich zusammen mit seinen Tänzern der Ästhetik Bagouets angenähert. "Wir haben vor jeder Probe Videos von Bagouet angesehen, zehn verschiedene Stücke und die in Etappen immer wieder, das haben wir beibehalten, auch wenn es gegen Ende der Probenzeit immer nur noch fünf Minuten waren. Eines der wichtigsten Stücke war für uns 'Necessito', das letzte Stück von Bagouet vor seinem Tod, und 'Assaï', das war, als er seine Diagnose HIV-positiv bekommen hatte. Das ist auch eine Arbeit mit dem Tod."
Mittlerweile haben die Carnets Bagouet ein sehr schönes Medienpaket auf den Markt gebracht ("Dominique Bagouet", La Maison d'à côté, 30 Euro), das aus einem Buch mit Interviews und Texten zu, mit und von Bagouet besteht sowie zwei DVDs mit Archivmaterial und den kompletten Stücken "Le Saut de l'ange", "Meublé sommairement" und "F. et Stein". Bagouets Solo aus letzterem sieht sich der Tänzer Emmanuel Eggermont vor jeder Vorstellung an, um dann leichtfüßig und behände, sehr elegant und zugleich verspielt über die Bühne zu tänzeln. Eine Feier der feingezirkelten Klein- und Kleinstbewegungen! "Er kopiert Bagouet nicht", sagt Hoghe, "aber er wird irgendwann wie Bagouet." Eggermonts Soli erscheinen virtuos in ihrer Präzision, ihrem Understatement und ihrer Komik. Sie leuchten auf, geben einen neuen Akzent in einem Stück, das einiges Neues und Überraschendes zu bieten hat: die schöne, zurückhaltende Ornella Balestra geht zwischendurch das Publikum in durchaus ordinärem Gestus an; Marion Ballester, die bei Anne Teresa de Keersmaeker engagiert war, entzieht sich im Lauf Takashi Ueno immer wieder, der vergeblich hinter ihr her stürmt, und bietet hinreißenden dynamischen Tanz, in den sich Hoghe selbst auch einklinkt. Die Schauspielerin Astrid Bas legt sich Orangenschalen auf ihre Augen und bildet das Alter ego, das weibliche Pendant, zu Hoghe. Und immer wieder finden sich die Tänzerinnen und Tänzer zu gegangenen Formationen.
Das ritualisierte Ausschreiten des Raums, die Wiederholung von Bewegungen, die ruhigen Handlungen, der hinausgezogene Schluss, all das, was man von Hoghes Stücken kennt, prägt auch "Wenn ich sterbe lasst den Balkon geöffnet". Auch die Momente gemeinsamen Zuhörens und Zusehens gibt es, hier sammeln sich die Tänzer am Schluss an den Seiten und sehen einem Solo von Eggermont zu. "Als ich ihn tanzen sah, wusste ich, das wird das Ende", sagt Hoghe, der überhaupt lieber nur Anfang und Ende eines Krimis sieht als den ganzen Film. Er denke auch oft vom Ende her.
"Ich erinnere mich" war der Leitsatz eines früheren Solos von Raimund Hoghe, Erinnerungen durchziehen seine Stücke wie rote Fäden, alles kann mit allem in Verbindung stehen, nichts ist "out of context". So vernäht er in "Bolero Variationen" Béjarts Flügelschlag mit Chavela Vargas Lied "Llorona" und die Eistanzkür von Jean Torville und Christopher Dean bei den Olympischen Spielen 1984 von Sarajewo mit dem O-Ton einer Cellistin des Mädchenorchesters von Auschwitz. In "Meinwärts", als er an den jüdischen Tenor Joseph Schmidt erinnerte, der auf der Flucht vor den Nationalsozialisten zu Tode kam, thematisiert er auch die Ausgrenzung und Stigmatisierung von Aids-Kranken. "Es ist wichtig, dass man weiß, wohin das führt. Man muss das Schlechte erinnern, um zu wissen, wo die Konsequenzen sind, und man muss auch die Qualitäten erinnern", sagt Hoghe. "Es gab immer die Tendenz", sekundiert Hoghes langjähriger Mitarbeiter Luca Giacomo Schulte, "dass Leute sagen, ich muss das nicht wissen, ich brauche das nicht. Vergessen zu wollen ist eine sehr private Idee." Vergessen, wie macht man das? Zitiert Hoghe eine KZ-Überlebende, die er in einem jüdischen Altenheim besucht hat.
"Wenn wir Filme ansehen, sei es von Bagouet, sei es von der Olympiakür, von der Callas oder von der Plissetzkaja für 'Swan Lake, 4 Acts', frage ich mich immer, was bleibt davon als Erinnerung? Damit arbeiten wir", sagt Hoghe. Ihn interessiert die Qualität, die der Künstler und die ihrer Arbeiten. "Das gibt Vergleichsmaßstäbe. Wenn etwas gehypt wird, dann kann ich sagen, ich habe das besser gehört, besser gesehen, das ist nicht neu, was mir hier verkauft werden soll. Ich will der Qualität eine Plattform geben." Die findet er bei Peggy Lee wie bei Igor Strawinsky, bei Maria Callas und Waslaw Nijinsky. Und so gibt es viele Passagen in seinen Produktionen, in denen dem zugehört wird, was Hoghe schätzt. Er gibt dem Raum, wovor er Respekt hat. Und er macht deutlich, wenn er etwas nicht mag. Die Sängerin Elisabeth Schwarzkopf zum Beispiel, die mit dem Satz zitiert wird, dass es sie nicht interessiere, was im Dritten Reich passiert sei. Sie wollte sich nicht erinnern. "Solche Leute interessieren mich nicht", sagt Hoghe.
2012 feiert Raimund Hoghe Zwanzigjähriges. Er denkt ans Abschiednehmen von bestimmten Stücken. "Ich möchte nicht mit 80 noch machen, was ich mit 40 und 50 Jahren gemacht habe." Es gehe nicht um das Bewahren, sagt er, der sich dem Erinnern verschrieben hat. Erinnern, weiß man, ist eine Kompetenz. Dank ihr entsteht etwas Neues. "In einer Arbeit, die sich mit Vergangenheit beschäftigt, gehen neue Türen auf."

©Katja Schneider