"Über sich hinaus"
Viele Jahre porträtierte Raimund Hoghe als Journalist außergewöhnliche Menschen – auch für die ZEIT. Heute ist er ein Star des internationalen Tanztheaters
Adam Soboczynski
Die Zeit, Nr.37, 08.09.2005
Aus dem Off ertönt Tschaikowskijs Schwanensee. Die Platte knistert, es ist Musik aus einer alten, russischen Verfilmung des Ballettklassikers. Raimund Hoghe steht auf der kargen Bühne, nimmt einen Eiswürfel aus einem Kübel, hält ihn an seine Stirn. Über ihn beugt sich sein junger Tanzpartner Lorenzo De Brabandere, berührt mit seiner Stirn gleichfalls das Eis. Dann stehen sie für einige Minuten Stirn an Stirn auf der Bühne, während das schmelzende Eis ihre Wangen herabrinnt. Und fast scheint es, in dem Moment, als sie behutsam die Köpfe zur Seite drehen, den Eiswürfel balancierend, als setzten sie zum Kuss an. Ein ungleiches Paar: De Brabandere ist 21 Jahre alt und athletisch, Hoghe ist 56, 1,54 Meter groß, hat einen Rücken, den er eine »Landschaft« nennt. Andere sprechen von einem Buckel, auch mit Mondkratern wurde die Wirbelsäulenverformung Hoghes einmal verglichen.
Das Tanztheater Swan Lake, 4 Acts wurde am vergangenen Sonntag in Hannover in einer deutschen Erstaufführung im Rahmen des Festivals Tanztheater International gezeigt. Der Plot ist bekannt: Odette wurde in einen weißen Schwan verwandelt, das kann nur die Liebe wieder aufheben. Prinz Siegfried soll sie erlösen, doch er wird getäuscht, verwechselt sie mit einem schwarzen sie erlösen, doch er wird getäuscht, verwechselt sie mit einem schwarzen Schwan, bis der Irrtum auffliegt und er schließlich doch um die Hand Odettes anhalten kann.
In Hoghes Choreografie wechseln die Darsteller beständig die Rollen. Jeder vermag in die Haut des schwarzen, in die des weißen Schwans zu schlüpfen, in die des Prinzen, der Prinzessin. Nur gestische Reminiszenzen erinnern an das klassische Ballett. Hoghe führt nicht die Handlung des Schwanensees auf, er inszeniert Bilder, freie Assoziationen, rituelle Bewegungen. Von »Erinnerungen« spricht er, die um Nähe und Ferne der Körper, um Berührung und Berührungsfurcht kreisen. Und am Ende des Stückes liegt er nackt auf der Tanzbühne, sein Rücken gibt die ungewohnte Landschaft preis.
Hoghe wird in Paris gefeiert, in Brüssel und London. Ende September wird im Pariser Centre Georges Pompidou sein Stück Young People, Old Voices wieder aufgeführt, im Oktober zeigt das Théatre de la Bastille seinen Schwanensee. Die Aufführungen sind ausverkauft. Französische Zeitungen wie Le Monde oder Libération widmeten Hoghe ganzseitige Porträts, Besprechungen seiner Stücke überschlagen sich mit Superlativen.
In Deutschland aber ist der Künstler weitgehend unbekannt. 2001 erhielt er zwar den Deutschen Produzentenpreis für Choreografie, doch es folgten kaum Aufträge. Hoghe, der zehn Jahre lang, von 1980 bis 1990, als Dramaturg am Tanztheater von Pina Bausch in Wuppertal arbeitete, ist nur im Ausland ein Star. Das ist umso erstaunlicher, als Hoghe vor seiner Tanztheaterkarriere hierzulande als Journalist bekannt wurde.
Raimund Hoghe wohnt in Düsseldorf. Zwei Wochen vor seinem Schwanensee-Auftritt in Hannover treffen wir uns in seiner Wohnung. Sein Wohnzimmer erinnert an eine Tanzbühne. Nackte Wände, vier Kissen liegen akkurat nebeneinander auf dem hellen Teppichboden. Kein Stuhl, keine Sofagarnitur, kein Möbelstück. Nur ein Miniaturschiff, umgeben von Kieselsteinen in der einen Ecke, in der anderen ein Fernseher. Als hätte man ihn beim Auszug stehen gelassen. Er brauche Luft, sagt Raimund Hoghe und reißt in der Weite des Raumes kurz die Arme auseinander. Dann geht er in die Küche und kehrt mit einer Kanne Earl Grey zurück. Wir setzen uns auf den Boden.
Hoghes Karriere als Darsteller begann 1994, im Alter von 45 betrat er erstmals eine professionelle Theaterbühne. Mehr als zwanzig Jahre lang war er als freier Journalist tätig gewesen, überwiegend in der ZEIT lieh er denjenigen eine Stimme, deren eigene zu leise war, um gehört zu werden. Er porträtierte Putzfrauen und Prostituierte, Aidskranke und Analphabeten. Dann wieder überraschte er seine Leser mit intimen Porträts von Freddy Quinn oder dem Schauspieler Bruno Ganz. Die Lyrikerin Rose Ausländer, die er im Altenheim besuchte, überreichte Hoghe eines ihrer letzten Gedichte: »Vergiß mich nicht / ich bin / dein ewiger Freund / Gib mir die Hand / so halte ich / das Leben«.
»Zärtlichkeit ist heute die größte Provokation«
Wie Ausländers Lyrik feierten auch Hoghes Texte das Leben. Jedweder Coolness fern, kreist jedes seiner Porträts um gebrochene Glücksversprechen, um Funken nur von Hoffnung, aber immerhin. »Es geht um Sehnsucht«, sagt Hoghe, und fügt hinzu: »und um Zärtlichkeit.« Auch in seinem Tanztheater.
Zärtlichkeit, sagt Hoghe, »das ist derzeit die größte Provokation. Nicht Gewalt, Sex oder Ketchup-Blut auf der Bühne schockieren. Es schockiert die Leute, wenn ich das Hemd ausziehe.« Diese Berührungsangst sei in Deutschland noch stärker als in anderen Ländern ausgeprägt.
Sein erstes Stück, in dem er selbst auftrat, Meinwärts, ist eine Hommage an den jüdischen Tenor Joseph Schmidt. Wie Hoghe war Schmidt 1,54 Meter groß, bekannt wurde er 1933 durch den Film und den gleichnamigen Schlager Ein Lied geht um die Welt. Ein kurzer Ruhm, die Nazis trieben den Sänger aus dem Land. Manchmal denke er, sagt Hoghe, wäre er nur wenige Jahre früher geboren worden, ihm wäre es als Behindertem ähnlich ergangen.
Schon in der Schule stand Raimund Hoghe mehrmals auf der Bühne, der bucklige Schneider, das Rumpelstilzchen, der behinderte Narr. Als sprachlos habe er seine Kindheit empfunden, mit diesem Rücken schien ihm jede Zukunft verbaut. Er erinnert sich an Blicke von Passanten; Blicke, die er noch heute, an schlechten Tagen, wie Nadelstiche empfindet. Zu klein, zu schwach sei er für sein Alter, sagten die Ärzte, die ihm ein Gipsbett verschrieben und ein Korsett und einmal im Jahr eine Kur an der See.
as Wuppertal der fünfziger Jahre. »Es wurde beharrlich geschwiegen«, sagt Hoghe. Dieses berühmte Nachkriegsschweigen. Mehr noch als seine Behinderung habe ihn die Tatsache gebrandmarkt, dass er ein uneheliches Kind war. »Ein Bankert«, sagten die Leute. Seine Mutter, alleinerziehend, nähte Kleider in der Küche für den Lebensunterhalt und trauerte Hoghes Vater nach, der sie sitzen ließ mit einem behinderten Kind.
Das Wirtschaftswunder gebar »Negerküsse, Mohrenköpfe und Amerikaner«, erinnert sich Hoghe. Behinderte waren auf der Straße nicht zu sehen. Manchmal, es sei schon seltsam, wie lange die Narben der Vergangenheit zu spüren seien, habe er noch immer diese Furcht, dass jemand kommt und ihn wegsperrt. Hoghe sagt das sehr abgeklärt, ruhig, mit einem konzentrierten Blick aus tiefliegenden Augen. In den Wuppertaler Kinos konnte er als Kind versinken in einer Traumwelt. Hoghe erzählt, wie er im Lichtspielhaus in einem großen Sessel gesessen habe, neben ihm sein Großvater, ein leidenschaftlicher Cineast. Caterina Valente lief durchs Bild, Heidi Brühl und Rock Hudson. Freunde der Leinwand.
Es werde ihm manchmal vorgeworfen, sagt Hoghe, dass er in einigen seiner Stücke sein Leben zu stark in den Vordergrund rücke. Seinen Körper, die Schlager seiner Jugend. Aber es gehe ihm um kollektive Bilder einer bestimmten Vergangenheit, nie um Nabelschau. Wobei es natürlich schon stimme, sagt er, dass er sich freue, wenn er sich Videos anschaue von eigenen Aufführungen. Da sähe er mit einem Mal einen Körper, für den es einen Raum gibt, eine Form. Einen Ausdruck für einen Körper, den die meisten als hässlich empfänden. Doch therapeutisch sei sein Tanztheater nicht. Es helfe nicht, um unbeschwert ins Freibad zu gehen oder in die Sauna. Es erleichtere nicht, den Blicken standzuhalten, sobald er von der Bühne steigt. »Es ist ja nicht so, dass ich sage, es ist super, so einen Körper zu haben.« Hin und wieder sei noch immer der Wunsch da, in einen anderen zu schlüpfen.
»Ich kämpfe gegen die kollektiven Schönheitsideale«
Man solle »den Körper in den Kampf werfen«, zitiert Hoghe den Regisseur und Schriftsteller Pier Paolo Pasolini. Auch er kämpfe, er kämpfe mit seinem Theater gegen die kollektiven Schönheitsideale der Gesellschaft an. Dann hält er inne, nippt kurz am Tee und bringt aus der Küche zwei Teller mit Pflaumenkuchen.
Er begreife sich nicht als Behindertenaktivist, fährt Hoghe fort, wolle kein Theater, in das die Leute mitleidig strömten, um sich an ihm als Opfer zu ergötzen oder als Freak. Letztes Jahr habe er einen Behindertenkongress in Oslo besucht. »Da gab es eine Frau, die Klavier spielte. Eine kleine Aufführung am Rande des Kongresses. Es hat einen Tag gedauert, bis ich ihr unbefangen ins Gesicht blicken konnte. Ein Elefantenmensch, ein Gesicht wie eine klaffende Wunde, als wäre das Innere des Körpers nach außen gekehrt.« Da habe sich für einen Moment die Welt verkehrt.
Das Schreiben, sagt Hoghe, habe ihm einst eine Sprache geschenkt. Das Tanztheater einen neuen Körper, wenn auch nur auf der Bühne. Es verblüffe ihn, immer wieder darauf angesprochen zu werden, dass er so spät in seinem Leben eine neue Karriere begann. Das sei so eine deutsche Frage, man sähe nur Hindernisse, nie neue Wege. Einst besuchte er Pina Bausch, um über sie einen Artikel zu schreiben. Dass sein Besuch zehn Jahre dauern würde, ahnte er vorher auch nicht, und er habe nicht zu hoffen gewagt, sagt er, dass er einst selbst auftreten würde. Und zuckt mit den Schultern: Es habe sich eben so ergeben.
wei Wochen später in Hannover, nach der Generalprobe in einem Restaurant, trinkt Raimund Hoghe ein Glas Bordeaux. Er war spazieren in der Fußgängerzone. Da sei er auf die Bildungsministerin Edelgard Bulmahn gestoßen. Wie sie an einem Stand für ihre Politik geworben habe, mit einem »gebrochenen Blick«, die drohende Wahlniederlage vor Augen. »Es war, als bündelte sich das ganze Land in diesem Blick«, sagt Raimund Hoghe.
Immer wieder wundere er sich, wenn er nach Düsseldorf zurückkehre, selten mittlerweile, denn er reist mit seiner Theatergruppe um die ganze Welt. Er wundere sich über sein Heimatland, dessen Sprache er liebe, und weshalb er zögere, nach Frankreich auszuwandern. Er wundere sich, dass es so vielen Menschen an Lust fehle, Lust an der eigenen Arbeit und an Herausforderungen. Und dabei gehe doch so viel.
©Adam Soboczynski