"Ein krummer Rücken kann auch entzücken"
Raimund Hoghes "Tanzgeschichten" in Hannover uraufgeführt
Franz Anton Cramer
Frankfurter Rundschau, 9. September 2003


Einmal nur stampft der ansonsten so stille und gefasste Choreograph auf wie Rumpelstilzchen. Ungehalten umrundet er das schwarz ausgehängte Kabinett im Hannoveraner ballhofeins. “Ich habe keine Lust mehr auf starke schreiende Frauen auf der Bühne!”, brüllt er. Das ist eine Reminiszenz an seine Zeit als Dramaturg des Wuppertaler Tanztheaters. “Heute bin ich mit Lorenzo hier, und er ist stärker als ich! Er führt mich über Grenzen hinaus!” Lorenzo De Brabandere ist kaum 20 Jahre alt. Hoghe lernte ihn bei der Arbeit zu seinem Stück “Young People, Old Voices” in Brügge kennen. Kaum zu glauben, dass dieser versonnene junge Mann dem gewieften Bühnenarbeiter Hoghe das Wasser reichen könnte. Aber die beiden verbindet eine Art platonischer Liebe, um die es in den “Tanzgeschichten” auch geht. Zu den schönsten Stellen des zweistündigen Abends, der jetzt im Rahmen des Festivals “Tanztheater international” uraufgeführt wurde, gehören die Duette des ungleichen Paars, wenn sie sich mit Händen und Armen an Gesicht und Stirn entlangstreichen, ohne sich zu berühren, aber mit einer solchen Zartheit und vornehmen Zurückhaltung, als gelte es, eine Madonnenstatue zu entstauben. Oder wenn sie sich wie spielende Kinder am Strand mit Kaffeebohnen bestreuen.
Raimund Hoghe erhielt 2001 den “Deutschen Produzentenpreis für Choreographie”. Mit dieser nicht besonders üppig dotierten Auszeichnung in Höhe von etwa 110.000 Euro verbindet sich die Aufgabe, ein neues Tanzstück zu erarbeiten und vierzehn Gastspiele in bundesdeutschen Städten zu finanzieren. Gleicchwohl ist es eine riesige Chance für den Journalisten und Filmemacher, Dramaturg und Schöngeist Hoghe, der 1994 erstmals selbst auf die Bühne trat. Schon das allein war eine Geste der Verstörung, denn Raimund Hoghe ist durch eine Wirbelsäulenverformung gezeichnet: Er hat einen Buckel. Und den stellt er aus.
Mit einem solchen Blick auf nackte Rücken beginnen auch die “Tanzgeschichten”. Dazu hört man das Prasseln von Kaffeebohnen, die Hoghe und Lorenzo in ritueller Langsamkeit über ihre Schulter streuen. Kaffeebohnen begleiten den ganzen Abend. Manchmal hört man das leise Knirschen, wenn einer der vier Mitwirkenden mit dem Fuß eine zermalmt. Nach zwei Stunden duftet der ganze Saal.
Im Übrigen stützt sich Hoghe stark auf die Musikcollage - meist Schlager und Songs, deren melancholische Grundstimmung die Basis für knappe szenische Aktionen darstellt. Zu “Are you lonesome tonite” auf Italienisch verliert sich Ornella Balestra, ehemalige Béjart-Ballerina, in einer stumm dahinschreitenden Umarmung. Zu Marianne Faithfuls “Boulevard of Broken Dreams” torkelt Geraldo Si, früher bei Pina Bausch, als würdevoll abgetakelte Transe umher. Und zu Mahler legt sich Hoghe einfach auf den Boden.
Jeder der Beteiligten hat so die Möglichkeit, ganz bei sich zu bleiben, aber dieses Bei-Sich-Bleiben so auszustellen, dass daraus eine große biographische Berührung entsteht. Balestra gibt ein hinreißendes “Schwanensee”-Adage (die Begegnung Odettes mit dem Prinzen) zu Originalmusik, aber nur in Andeutungen ausgeführt. Die Schulter leicht ans Kinn gezogen - die klassische Schwanengebärde aus Petipas Choreographie -, auf hoher halber Spitze, mit einigen wenigen Bourées, so ist in ihrem melancholischen Blick eine gesamte Rollengeschichte verdichtet: die Sehnsucht, “auch einmal so zu tanzen”, die technische Vollendung, die emotionale Verausgabung, die Wiederholung, dann die Verdrängung durch Jüngere. Zu solchen Momenten werden tatsächlich Geschichten erzählt. Aber jeder muss sie für sich selbst verstehen.
Hoghe geht es um die biographische Ehrlichkeit, verbunden mit einer Knappheit der Mittel, welche weder dem rührigen Tanztheater zugehörig ist noch der dramatischen Deutlichkeit. Man erklärt eben nichts, sondern gibt Gesten, Haltung, Stimmungen nur im Modus des Erinnerns: bildlos und durchtränkt mit Gefühl. So werden die knappen Handlungen die Erinnerung selbst, während der Urgrund dieser Bilder verloschen ist. Als Pose erschließen sich manche dieser Gebilde, als bloß inneren Vorgang “sieht” man sie nicht.
Das aussagestärkste Bild liefert Raimund Hoghe selbst. Nachdem Ornella Balestra mit Kaffeebohnen Spuren ihres Umrisses auf den Boden gestreut hat, versucht er, sich in diese Vorlagen einzupassen. Natürlich füllt er sie nicht aus. Es passt eben kein Leben ins andere. Jeder bleibt mit seinem Sein allein. Das zu zeigen, ist Auftrag der Bühne - jenseits von Tanz, Tanztheater oder Drama. Es ist aber zugleich der gemeinschaftsstiftende Anlass schlechthin. Denn nirgends darf man sich so verbunden fühlen wie beim Anschauen des Unvereinbaren.

©Franz Anton Cramer
Diese Rezension ist erschienen in der Frankfurter Rundschau vom 9. September 2003