"Kunst braucht Zeit"
Die Langsamkeit geht an die Schmerzgrenze, aber die Faszination siegt – "La Valse" von Raimund Hoghe
Michael S. Zerban


Vor lauter Freude, dass die Flüchtlingszahlen im eigenen Land zurückgehen, erfahren wir aus den Medien kaum mehr, was mit den Fliehenden geschieht, die von uns ferngehalten werden. Die weiter im Meer ertrinken, Tag für Tag werden es mehr, die nach grausamem Todeskampf elendig an zu viel Wasser in der Lunge ersticken, wenn sie nicht vorher erfroren sind. Die sieht man nicht, die hört man nicht. Die verschwinden gurgelnd, weil sie versucht haben, den Bombenhageln ihrer Landsleute zu entkommen. Jeder, der noch einen Funken Anstand in sich spürt, muss das unerträglich finden. Raimund Hoghe ist einer von denen. Der Choreograf hat sein neuestes Werk jetzt in Deutschland vorgestellt, nachdem es in Paris sehr erfolgreich zur Uraufführung kam. Ein dreistündiges Stück, das den Zuschauer vor Herausforderungen stellt.
La Valse – Der Walzer – dauert satte drei Stunden in schier unendlicher Langsamkeit. Ungewöhnlich schon der Beginn. Die hellerleuchtete Bühne ist mit schwarzem Samt abgehängt, der eine feierlich-morbide Stimmung hervorruft. Hoghe betritt hinten rechts die Bühne, geht ein paar Schritte, krempelt die Hosenbeine hoch und legt sich in Seitenlage nieder. Guy Vandromme setzt sich, in eine Decke gehüllt, an den Flügel, der vorübergehend in den Vordergrund gerückt ist. Endlich lässt er die Decke zu Boden gleiten und spielt dröhnend Ravels Walzer-Klavierfassung. Eine Viertelstunde. Hoghe liegt reglos. Das weiße Licht prasselt auf den kahlen Bühnenboden.
Was hat das mit Tanz zu tun? „Meine Stücke sind Meditationen über Sehnsucht und Angst, Liebe und Trauer, Vergessen und Erinnern, Schmerz und Schönheit“, sagt der Choreograf. Und vor allem sind sie weitab von jedem „Zeitgeist“, wenn Hoghe vor dem Umgang mit Musik und Geräusch nicht zurückschreckt, um den Szenen einen tieferen Sinn zu verleihen. Oder, so hat es manchmal den Anschein, den Menschen schöne Musik von früher noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Zwischen Walzerklängen ist geradezu leitmotivisch immer wieder das Wasser zu hören, das an die Reling schlägt, über einen rettenden Strand spült, Funksprüche einer Rettungsaktion auf dem Meer, einmal gibt es Beifall für gerettete Überlebende. Er verstummt schnell. Und für lange Zeit.
Hoghe findet für die Sprachlosigkeit des Entsetzens viele Klänge. Angefangen beim Wiener Walzer, aus dem Ravel seinen Valse entwickelte, über klassische Operettenmelodien hin zu amerikanischen Songs, die ebenfalls im Walzertakt daherkommen. Es klingt nach einer sehr persönlichen Mischung. So wie der Tänzer seiner Choreografie einen sehr persönlichen Stempel aufdrückt. Selbst dann, wenn er die Tänzer in großer Besetzung auftreten lässt. Hoghe steht immer vehement im Hintergrund. Die Ausnahme ist dann auch der Höhepunkt des Abends. Der kleine Mann, der in ganz Frankreich bejubelt wird, benetzt die Bühne mit einer Gießkanne, die er mehrfach mit Wasser nachfüllt. Er schafft aus der Tanzfläche ein Meer. Dann legt er sich bäuchlings in die Bühnenmitte und beginnt mit rudernden Armen zu schwimmen. Immer und immer wieder diese eine monotone Bewegung. Der Atem geht schneller. Aber es bleibt bei dieser Bewegung. Die Bedingungslosigkeit macht Gänsehaut. Oder schreckt ab. Wir wollen das nicht wissen, weil wir nicht helfen können, weil wir uns gegen die Verzweiflung nicht wehren können. Wir sind nicht die Schuldigen. Wir sind auch die Leidtragenden.
Das Dilemma lösen auch die Tänzerinnen und Tänzer nicht auf, egal, wie langsam sie sich bewegen. Ihre umgehängten Decken, die Decken, die Gerettete umgehängt bekommen, diese grauen Wolldecken machen wütend. Egal, wie grazil, gewandt und gekonnt sich die Tänzer in ihren Soli, Pas de Deux oder Gruppentänzen – immer berührungslos – bewegen, es gibt diese Rettung nicht. Immer nur scheinbar. Weil eine Rettungsdecke, egal, ob es die graue ist, mit denen die Tänzer arbeiten oder die silber-goldfarbene, mit der Hoghe spielt, immer nur eine Station auf der Flucht markiert. Wenn alles unerträglich wird, man nach drei Stunden wirklich nicht mehr mag, geleitet Hoghe seinen Gast, Ornella Balestra, ebenfalls in diese Decke gehüllt, hoheitsvoll in eine unbestimmte, vielleicht bessere Zukunft. Noch einmal kann der Moon River von Frank Sinatra, hier in der großartigen Filmversion von 1962 mit Audrey Hepburn und Henry Mancini, Hoffnung spenden.
Raimund Hoghe hat hier eine in jeder Hinsicht starke Aufführung abgeliefert. Er hat die Kraft und den Geist gezeigt, sich künstlerisch abseits des Mainstreams mit einem Thema auseinanderzusetzen, das uns alle beschäftigt. Sein Applaus bleibt hinter den Erwartungen zurück. Das sollte ihm und seinem Team zur Ehre gereichen. Auch, wenn man manchmal den Mainstream doch ganz gut leiden mag, weil er einen nicht drei Stunden lang gefangen nimmt.

©Michael S. Zerban
O-Ton – Magazin für Musiktheater und mehr Kultur, Januar 2017