"Liebesbriefe als Resonanzräume für zeitgenössische Krisenherde"
Der Journalist und Dramaturg Raimund Hoghe zeigt sein Stück ‘Lettere amorose’ im Frankfurter Mousonturm
Gerald Siegmund
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09 March 2000


Um die leere Bühne des Mousonturms stehen fünf Männer in sich versunken. Andächtig lauschen sie den Klängen von Mozart, bis sie der kleine Mann auffordert, die Bühne zu verlassen. Wie aus einem Traum erwacht, holt er lauter Gegenstände aus den Ecken, breitet sie an der Rampe ordentlich in einer Reihe aus und schreitet sie langsam ab. Es sind die Materialien, mit denen Raimund Hoghe sein Stück bestreiten wird. Vor zusammengefalteten Briefen macht er halt.

Im Laufe des Abends liest der gelernte Journalist und langjährige Dramaturg von Pina Bausch fünf Liebesbriefe vor: einen Brief eines in Deutschland lebenden türkischen Jungen an seine Bruder und den einer türkischen Mutter an ihren in Istanbul lebenden Sohn. Zwei afrikanische Mädchen, die als blinde Passagiere im Fahrgestell eines Flugzeugs ums Leben kommen sollen, bitten die mächtigen Herren Europas um Hilfe für ihren Kontinent. Der Prinz von Theben, alias Else Lasker-Schüler, möchte an den Zürcher See zurückkehren, und der Franz schreibt seiner Hilde, dass sie schon entschuldigen müsse, aber er habe jetzt eine andere heiraten müssen. Es ist ein Brief, den Hoghes Vater zu Beginn der fünfziger Jahre an seine Mutter schrieb, und in dem miniaturartig eine ganze Zeit eingefangen ist.

"Lettre amorose" ist ein Stück über das Fremdsein und die Sehnsucht nach Nähe, Glück und Erfüllung. Doch die Kluft zwischen der Wirklichkeit im Hier und Jetzt und jenem anderen paradiesischen Ort bleibt ebenso unüberbrückbar wie der geliebte Mensch immer nur aus der Ferne zu uns herüberblickt. So entfaltet Hoghe zwei Stunden lang mit einer Reihe von Objekten kleine Rituale, die er mit nüchterner Akkuratesse ausführt, als könne die Welt endgültig zerbrechen, verlöre sie auch noch diese Ordnung. Ganz in schwarz gekleidet und mit ausdruckslosem Gesicht, legt er mit weißen Spitzentüchern Muster auf den Bühnenboden, baut aus Mikadostäbchen kleine Häuser, verschanzt sich hinter Miniatur-Paravents als wolle sich ein kleiner Junge am Strand vor dem Wind schützen und entfacht mit einem Strauß weißer Margeriten ein Reinigungsritual, indem er die Blüten in ein Glas Wasser taucht, um sie anschließend über die Schulter auszuschnicken.

Wie in den frühen Skulpturen Bruce Naumans, die ihren Ausgang in den sechziger Jahren im Minimalismus nahmen, ist auch für Hoghes minimalistische Tätigkeiten sein Körper das Maß aller Dinge. Mit nackten Oberkörper, seine krumme Wirbelsäule und sein Buckel sind mit einem roten Strich markiert, dreht er sich mit einem ausgestrecktem Arm tanzend an der Bühnenrückwand entlang. Jeder Schritt ist genau abgemessen, wird zwischen jedem Objekt exakt wiederholt, bis sich mit der Musik ein Rhythmus einstellt. Auf diese Art schreibt sich Hoghes Körper in den Bühnenraum ein. Er bleibt das Zentrum, an dessen Proportionen sich alle Abstände der Dinge zueinander messen lassen.

Man hat Hoghe immer wieder vorgeworfen, seine Stücke seien zu lang, verfielen gar einer Privatmythologie, die außer Hoghe selbst niemand verstehen könne. Doch Hoghes Mittel, die sich ebenso aus der amerikanischen Abstraktion und ihrer Performancetechniken wie aus dem deutschen Expressionismus mit seiner Ausrichtung auf die Gefühle des Menschen speisen, entspringen einer künstlerischen Notwendigkeit. Er lässt Kunst in Realzeit in den Alltag kippen, bis wir meinen, dem Leben zuzuschauen, wie es sich in einfachen, gänzlich undramatischen Verrichtungen vor uns entfaltet. Die Katastrophen ereignen sich im Kopf. Zwischen den Worten und Dingen öffnen sich Freiräume für eigene Erinnerung und affektive Momente.

Das Drama legt Hoghe in die Musik. Emotional bis an den Rand des Kitschs aufgeladen, bilden die Chansons von Jacques Brel bis Frank Sinatra das dramaturgische Gerüst des Abends. Jeder Text suggeriert eine Handlung, jedes Lied ist ein Stück Erinnerungsarbeit an einer Biografie, die nicht ins Schema passt und die gerade deshalb exemplarisch für ein Stück deutsche Nachkriegsgeschichte steht. In den Liebesbriefen öffnen sich jedoch plötzlich Resonanzräume zu anderen zeitgenössischen Krisenherden. Sie erzählen von Menschen in Not, denen nach wie vor nur ihre Sehnsucht bleibt. Raimund Hoghes Rituale zielen auf uns. Am Ende markieren Blumensträuße den Ort, an dem die Jünglinge zu Beginn standen. Nach und nach kehren sie aus dem Parkett wieder auf die Bühne zurück. Raimund Hoghe tut das, was Kunst und vor allem Theater seit Urzeiten immer schon tun: er leistet Trauerarbeit. Das ist alles andere als marktgerecht und mitunter tatsächlich schmerzhaft und lang, aber nicht minder notwendig.



©Gerald Siegmund